Das also ist das neue „Deutschland-Tempo“, von dem Olaf Scholz immer sprach: Die Wahllokale waren kaum geschlossen, da stand in der SPD schon kein Stein mehr auf dem anderen. Scholz weg, Mützenich weg, Esken nicht weg, aber egal, Klingbeil da – so geht Führungswechsel. Noch bevor irgendein vorlauter Juso auf die Idee kommen konnte, Lars Klingbeils eigene Rolle beim Absturz der SPD zu hinterfragen, hatte sich der SPD-Co-Chef schon an die Spitze der Revolution gesetzt und sich auch noch den Fraktionsvorsitz geschnappt. Er hält in der SPD jetzt alle Fäden in der Hand und kann die Groko mit der Merz-Union aushandeln. Ein Coup.
Ob Klingbeil später noch auf die Vizekanzlerschaft zugreift oder diese dem populären Verteidigungsminister Boris Pistorius überlässt, muss sich noch zeigen. Man darf allerdings annehmen, dass die beiden aus der „Niedersachsen-Connection“ stammenden neuen starken Männer der SPD das untereinander bereits geregelt haben. Klingbeil ist 47 Jahre alt, Pistorius 64. Da klärt sich manche Zukunftsfrage von allein. Wie er den „Wiederaufbau der SPD als Volkspartei der linken Mitte“ bewerkstelligen will, hat Klingbeil bereits angedeutet: Er war es, der die SPD aus ihrer innigen Umarmung mit Putin löste, als er 2022 verlangte, Deutschland müsse jetzt seine Sicherheit nicht mehr mit, sondern vor Russland organisieren. Bei einem Besuch in unserem Pressehaus vor einer Woche legte er programmatisch nach. Er wolle, dass die SPD wieder „weniger Bürgergeldempfänger-Partei und mehr Anwalt der Mitte“ werde. Gut so. Als bessere grüne Partei hat die SPD leider zu viele Arbeiter und Arbeitnehmer an die AfD vergrault – bis hin zu dem historischen Bankrott von Deutschlands altehrwürdigster Partei bei der Bundestagswahl am 23. Februar. Klima und „Asyl für alle“ können Habeck und dessen Nachfolger einfach besser. Genau das hatten einst zwar auch schon die Parteichefs Andrea Nahles und Sigmar Gabriel gemerkt. Doch scheiterten sie mit ihrer versuchten Kurskorrektur an den woken Apparatschiks, die nach Gerhard Schöder die Macht in der SPD übernahmen.
Deutschland ist in einer dramatischen Wahlnacht haarscharf an einem Desaster vorbeigeschrammt: 14000 fehlende Stimmen für Sahra Wagenknecht haben nicht nur das Land vor der Unregierbarkeit und die Merz-Union vor einer Art Ampel-Neuauflage gerettet. Auch die SPD könnte sich, wenn der Mützenich-Flügel mitspielt, jetzt als pragmatisch regierende linke Kraft gegenüber den Grünen in Szene setzen. Erst recht, wenn Merz sein Versprechen hält, seinen Koalitionspartner anders als Merkel nicht erdrücken zu wollen, sondern ihm Platz zur Profilierung zu geben. Wenn die SPD Klingbeil und Pistorius auf ihrem neuen Weg folgt und wieder an ihre populären Mitte-Kanzler Schmidt und Schröder anknüpft, dann könnte sich Alice Weidel am Ende vielleicht doch noch als falsche Prophetin erweisen mit der Vorhersage, dass die AfD spätestens in vier Jahren die Macht in Deutschland übernimmt.
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