München – Keine zehn Meter kann Claudia Küng über den Markt am Fellererplatz in Solln laufen, ohne angesprochen zu werden. „Schön, dass Sie Ihr Lächeln nicht verloren haben“, ruft ihr ein Mann zu. „Wir haben für Sie gestimmt, an uns hat es auf jeden Fall nicht gelegen“, versichert ein Ehepaar. Das Mitleid der Anwohner erntet die 59-Jährige, weil sie bei der Bundestagswahl im Februar zwar den Wahlkreis München-Süd für die CSU gewonnen hat, aufgrund des neuen Wahlrechts aber nicht in den Bundestag einziehen darf.
In Solln scheint fast jeder Claudia Küng zu kennen – obwohl die studierte Volkswirtin erst spät als CSU-Direktkandidatin nominiert wurde. „Wir haben sechs Wochen lang Turbo-Programm gemacht“, erklärt Küng. Jede freie Minute steckte sie in ihren Wahlkampf, verteilte morgens vor der Arbeit Flyer, machte abends mit Einwohnern ihres Wahlkreises eine Bartour durch Giesing. Gemeinsam mit ihrem Mann James sowie ihren erwachsenen Kindern Laura und Alexander klopfte sie an Haustüren und hängte so viele Plakate auf wie möglich. Um den Wählern im Gedächtnis zu bleiben, drehte sie einen Spot, der wochenlang in Kinos im Münchner Süden lief. Sie dürfte sehr viel eigenes Geld in den aufwendigen Wahlkampf gesteckt haben. Auf die Frage, ob die Kosten im fünfstelligen Bereich waren, antwortet Küng lächelnd, aber ausweichend: „Wenn ich etwas anpacke, dann richtig. Ich gebe immer alles.“
Am Ende habe sich der große Aufwand auch gelohnt, sagt die 59-Jährige: „Ich habe mein Ziel erreicht, die letzte Bastion der Grünen, das gallische Dorf sozusagen, zu erobern.“ In einem Kopf-an-Kopf-Rennen setzte sich Küng gegen Grünen-Kandidatin Jamila Schäfer durch. „Meine Kinder haben mich in der Wahlnacht angerufen und gesagt: ‚Mama, Mama, du gewinnst!‘“, erklärt sie. Sie habe viele Glückwünsche erhalten. Erst am Morgen nach der Wahl meldete sich CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt: Es gebe keinen Platz für sie im Parlament – das neue Wahlrecht ist schuld.
Sie fürchtet nun, dass Themen, die ihr am Herzen liegen – Gesundheit, Wirtschaft, regionale Anliegen im Münchner Süden –, in Berlin nicht genügend Beachtung finden. Auch aus persönlichen Gründen hätte sie es gerne nach Berlin geschafft. Da ihre Eltern in der Hauptstadt wohnen, hatte sie gehofft, mehr Zeit mit ihnen verbringen zu können. Ihr Vater Ulf Fink ist auch Politiker. Der 82-Jährige, der inzwischen im Rollstuhl sitzt, führte bis 1993 den CDU-Landesverband in Brandenburg und wurde 1994 über die Landesliste in den Bundestag gewählt, dem er bis 2002 angehörte. „Ich habe davon geträumt, meinen Vater im Rollstuhl wieder in den Bundestag zu schieben“, erzählt Küng.
Dieser Traum wurde ihr durch das neue Wahlrecht verwehrt. Es deckelt die Zahl der Mandate im Bundestag auf 630. Neben Küng erwischte es 22 Politiker, unter anderem aus Nürnberg, Augsburg, Leipzig, Frankfurt, Flensburg. In vielen Fällen zogen ausgerechnet die direkten, eigentlich unterlegenen Gegenkandidaten über die Liste ins Parlament ein; auch bei Küng und Schäfer ist das so. Küng ist jetzt zwar Nachrückerin für die CSU, falls in den nächsten vier Jahren zwei CSU-Abgeordnete ausscheiden, ist sie an der Reihe. Verlassen kann sie sich darauf aber nicht. Ob sie nochmal kandidieren wird, ist offen.
SOPHIA BELLIVEAU