„Ich habe Vertrauen in mein Volk“: Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu ist sehr beliebt. Dieses Foto entstand fast genau vor einem Jahr. © Seco/dpa
Istanbul – Dutzende Festnahmen, Demonstrationsverbote, Straßensperren sowie Beschränkungen bei Online-Medien: In der Türkei hat die Justiz im Zuge einer groß angelegten Razzia den führenden Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu festgenommen – nur wenige Tage bevor er zum Präsidentschaftskandidaten der sozialdemokratischen CHP gekürt werden sollte. Dem aussichtsreichen Herausforderer des autoritären Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wird Korruption und auch Terror-Unterstützung vorgeworfen. Die Partei des Bürgermeisters von Istanbul warnte dagegen vor dem Versuch eines Staatsstreichs – und rief landesweit zu Protesten auf.
Neben Imamoglu wurden laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu mindestens 84 weitere Personen festgenommen. Konkret gehe es dabei um den Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Erpressung, Bestechung, Betrug und Ausschreibungsmanipulation.
Imamoglu sagte frühmorgens in einem Video auf X, das in seinem begehbaren Schrank aufnahm, hunderte Polizisten stünden vor seiner Haustür. „Wir befinden uns im Angesicht einer großen Tyrannei.“ Dann wurde er auf eine Polizeistation gebracht, nach Medienberichten wurde das Anwesen durchsucht.
Terrorermittlungen gegen politische Amtsträger wecken in der Türkei böse Erinnerungen. Vor allem Bürgermeister der prokurdischen Dem-Partei wurden zuletzt wegen Terrorermittlungen ihres Amtes enthoben. Ob auch Imamoglu das droht, war unklar. Neben Imamoglu wurden unter anderem auch die Bürgermeister zweier Istanbuler Gemeinden und ein bekannter Sänger festgenommen. Hintergrund der Terrorermittlungen ist Anadolu zufolge eine Kooperation zwischen CHP und DEM bei den Kommunalwahlen. Dabei hatten beide Parteien zusammengearbeitet, um in Gemeinden Mehrheiten zu gewinnen. Über diese Kooperation habe die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK versucht, ihren Einfluss auszuweiten, zitierte Anadolu die Generalstaatsanwaltschaft.
Die Türkei erlebe gerade „einen Putschversuch gegen den nächsten potenziellen Präsidenten“, kritisierte der CHP-Chef Özgür Özel. Seine Partei rief zu landesweiten Protesten auf. Devlet Bahceli, Chef der ultranationalistischen Partei MHP und Regierungspartner Erdogans, kommentierte dagegen, die türkische Justiz sei unabhängig, unparteiisch und objektiv.
Das Büro des Gouverneurs der Provinz Istanbul verhängte eine viertägige Demonstrations-, Versammlungs- und Nachrichtensperre bis Sonntag – an dem Tag soll Imamoglu zum Spitzenkandidaten gekürt werden. Etliche Soziale Netzwerke sowie Kurznachrichtendienste waren nur eingeschränkt nutzbar. Viele Türken beschrieben Beschränkungen unter anderem auf X, Youtube, Instagram, Tiktok, Whatsapp sowie Signal und Telegram.
Imamoglu sollte mit großer Wahrscheinlichkeit bei kommenden Präsidentschaftswahlen als Gegner Erdogans antreten. Aktuellen Umfragen zufolge wäre ein Sieg möglich. Erdogan führt die Türkei seit mehr als 20 Jahren als Regierungschef oder Präsident. Viele Oppositionelle sehen in dem Vorgehen nun den Versuch, einen politischen Gegner auszuschalten. Erdogan darf laut geltender Verfassung beim regulären Termin 2028 kein weiteres Mal als Präsident antreten – es sei denn, das Parlament stimmt für vorgezogene Neuwahlen. Erdogans Partei und ihre Verbündeten können dies im Parlament nicht ohne Oppositionsstimmen veranlassen.
Der türkische Exiljournalist Can Dündar sagte: „Erdogan hat heute den Putsch durchgeführt, den er lange geplant und vorbereitet hat und ließ seinen engsten Rivalen ins Gefängnis stecken.“ Auch die Bundesregierung sprach von einem schweren Rückschlag für die Demokratie in der Türkei.