Verteidigung ist nationale Angelegenheit. Noch jedenfalls. © Gambarini/dpa
München – Europa wird selbstbewusster, aber reicht das? Der frühere Europaabgeordnete und heutige Präsident der Paneuropa Union, Bernd Posselt (CSU), fordert mutige Schritte – und deutlich mehr Härte gegenüber Ungarn.
Herr Posselt, kann Europa ohne die USA bestehen?
Ich bin seit Jahrzehnten der Meinung, dass wir uns weiterentwickeln müssen zu Vereinigten Staaten von Europa mit einer supranationalen Verteidigungsunion und einer eigenen Armee. Wissen Sie, jeder US-Präsident kann eigenständig handeln oder zusammen mit der Nato. Wenn die USA aber anderes wollen als die Europäer, können die Europäer nicht eigenständig handeln. Eine faire Nato müsste auf Augenhöhe aufgebaut sein.
Verteidigung ist nach wie vor nationale Aufgabe. Wie müsste eine Verteidigungsunion aussehen?
Eine Koalition der Willigen, wie sie manche gerade fordern, fände ich gefährlich, weil sie nicht nachhaltig und nicht demokratisch kontrolliert wäre. Mittelfristig braucht es eine EU-basierte Verteidigungsgemeinschaft mit einer klaren außen- und sicherheitspolitischen Kompetenz, die als Ganzes mit Großbritannien und anderen zusammenarbeitet.
Die EU will massiv aufrüsten, aber einzelne Staaten fremdeln damit. Scheitern wir an dieser Aufgabe?
Wir müssen eine Doppelstrategie fahren und das machen, was im Moment zu machen ist. Womöglich macht vorerst nur ein Teil der EU-Staaten mit. Jetzt, da es akut um das Überleben der Ukraine und ganz Europas geht, wäre das in Ordnung, mittelfristig brauchen wir aber mehr. Wenn ich große Löcher in den Socken hab‘, muss ich die Löcher stopfen und gleichzeitig neue Socken stricken.
Auch Viktor Orbán, der immer wieder querschießt, ist in dieser Rechnung ein Problem…
…das endlich gelöst werden muss. Um Ungarn zu suspendieren, bräuchte es die Zustimmung aller anderen EU-Staaten. Orbán hatte bisher aber immer das Glück, ein Stützrad zu haben. Früher war das Polen, jetzt ist es der slowakische Ministerpräsident Robert Fico, der ihn schützt. Fico hat aber keine Mehrheit mehr im Parlament und könnte gestürzt werden, deshalb ist interessant, was in Rumänien passiert…
… wo ein Nationalist mit Kreml-Unterstützung Präsident werden will.
Dieser Versuch Russlands, Rumänien zu übernehmen, hat eine doppelte Funktion: Orbán als Interessenvertreter des Kremls braucht womöglich eine neue Stütze nach Fico. Außerdem ist Rumänien das Land, das die längste Grenze zur Ukraine hat und eine zentrale Rolle am Schwarzmeerufer spielt. Russlands Krieg ist auch ein Kampf ums Schwarze Meer. Rumänien zu stabilisieren, ist eine zentrale Aufgabe.
Und wenn Orbán doch eine neue Stütze findet?
Dann muss man vielleicht darüber nachdenken, die EU ohne Ungarn neu zu gründen. Revolutionäre Zeiten erfordern revolutionäre Maßnahmen.
Wie soll Europa enger zusammenwachsen, wenn der Nationalismus größer wird?
Es gibt gleichzeitig starke Integrationskräfte, die erkennen, dass irgendetwas das Vakuum der Amerikaner ausfüllen muss. Das können nur Vereinigte Staaten von Europa. Ich war dabei, als Ronald Reagan vor 40 Jahren im Europaparlament sprach. Da sagte er wörtlich: „Europa, geliebtes Europa, Du bist größer als Du glaubst, werde endlich Du selbst.“ Und Trump sagt heute, die EU sei gegründet worden, um Amerika zu schaden.
Sollten wir unter den französischen Atomschutzschirm schlüpfen?
Kurzfristig ja. Aber auch hier gilt: Das eine tun und das andere nicht lassen. Wir sollten uns nicht langfristig von einem einzelnen Land abhängig machen, sonst ist irgendwann Frau Le Pen unser Atomschirm. Langfristig braucht eine europäische Verteidigungsunion einen eigenen Atomschirm. Ich hoffe übrigens, dass wir auch auf den US-Schutz weiter zählen können. Aber dann dürfen wir auf keinen Fall wieder in den Tiefschlaf der letzten 75 Jahre versinken. Der nächste Trump kommt bestimmt.