„Die türkische Elite verlässt das Land“

von Redaktion

Protest der jungen Generation: In Istanbul gehen vor allem Studenten gegen Erdogan auf die Straße. Viele kluge Köpfe verlassen auch das Land – und kommen nach Deutschland. © AFP

München – Der Klang von Trillerpfeifen und Sprechchören schallt durch die Straßen von Istanbul. Die Gesichter entschlossen, die Stimmen vereint, lassen sich die Demonstranten vor dem Rathaus der türkischen Stadt von den Polizisten nicht einschüchtern – obwohl die Beamten mit Tränengas und Gummigeschossen gegen sie vorgehen. „Regierung, tritt zurück“, skandiert die Menge, die vor allem aus jungen Studenten besteht. Viele von ihnen kennen nur einen türkischen Präsidenten: Recep Tayyip Erdogan. Und von ihm haben sie spätestens seit der Festnahme des populären Oppositionspolitikers und Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu genug.

Die sozialdemokratische CHP, der Imamoglu angehört, hat auch für diesen Samstag wieder zu Protesten aufgerufen. Ziya Akcetin, Vorsitzender des Vereins CHP Bund Berlin, ist positiv überrascht: „Wir haben immer gedacht, die Generation Z interessiert sich gar nicht für Politik, jetzt wurden wir aber eines Besseren belehrt. Alle Studenten sind auf der Straße.“ Auch in Deutschland nimmt der 61-Jährige, der aus Istanbul stammt, große Solidarität mit Imamoglu wahr. „Viele Leute kommen seit Erdogans Aktion zu uns und wollen Mitglied werden oder nehmen an Demonstrationen teil.“

Die Unzufriedenheit mit Erdogans zunehmend autoritärem Regime wächst seit Jahren. Viele Türken verlassen ihre Heimat. 2024 stellten laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mehr als 30 000 türkische Staatsangehörige einen Asylantrag in Deutschland. Akcetin, der in Erlangen studiert hat und inzwischen Chefarzt einer Klinik in der Nähe von Berlin ist, bekommt „wirklich jeden Tag“ Bewerbungen von türkischen Ärzten, die Stellen in Deutschland suchen. „Die akademische Elite verlässt das Land.“

Während türkische Akademiker eher Anhänger der CHP sind, unterstützt die türkische Community in Deutschland zu großen Teilen Machthaber Erdogan. Bei der Präsidentschaftswahl 2023 stimmten etwa 65 Prozent der Deutschtürken für ihn. „Wer im Ausland lebt, nimmt die Repressalien und das Klima der Unterdrückung nicht so wahr“, sagt Akcetin. Die türkische Gemeinschaft sei, wenn es um Erdogan geht, tief gespalten. Er glaube jedoch nicht, dass es zu Auseinandersetzungen zwischen ausgewanderten CHP-Anhängern und deutschen Erdogan-Wählern kommen werde.

Noch lässt sich außerdem nicht absehen, wie viele Türken ihr Land in den kommenden Monaten verlassen werden. „Ob die Auswanderungswelle zunehmen wird, hängt vor allem davon ab, ob Erdogan die Situation weiter eskalieren wird oder nicht“, analysiert Türkei-Experte Eren Güvercin. Er kann sich jedoch auch vorstellen, dass viele Oppositionelle in ihrer Heimat bleiben, um für die Demokratie zu kämpfen. „Ich glaube, wir haben es in der Türkei mit einer jungen Generation zu tun, die sich nicht mehr zurückhält und schweigt, sondern auf die Straßen geht und die Stimme erhebt.“ Damit habe Erdogan nicht gerechnet.

Das gibt Ziya Akcetin Hoffnung auf ein Ende des Erdogan-Regimes. Die jungen Menschen, die in der Türkei „ihr Leben, ihr Einkommen – alles, was man als einzelner Bürger verlieren kann“, riskieren, kämpfen seiner Meinung nach auch für die Demokratie in Europa: „Wenn die Türkei eine Diktatur wird – und die ersten Zeichen sind schon erkennbar –, dann wäre diese Diktatur wieder um 1000 Kilometer näher als die in Syrien zum Beispiel. Die Europäer sollten sich überlegen, ob sie das vor ihren Toren möchten.“

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