Europas Werte contra Realpolitik

von Redaktion

Anti-Erdogan-Proteste in der Türkei

Es war eine der größten Demonstrationen in der Geschichte der Türkei – umso erstaunlicher, da die gleichgeschalteten türkischen TV-Sender kaum über den seit Tagen andauernden Aufstand gegen Recep Tayyip Erdogan berichten. Die Wucht der Proteste nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu hat den türkischen Präsidenten sichtlich überrascht. Zwar behauptet Erdogan, er habe „die dicksten Rüben noch in der Satteltasche“, doch außer noch mehr Polizeigewalt gegen Demonstranten und noch mehr Verhaftungen von politischen Kontrahenten scheint ihm bisher nichts einzufallen.

Die Demonstrationen werden trotz des harten Vorgehens immer größer. Und die Strategie geht über Protest auf der Straße hinaus: Es gibt eine Boykott-Kampagne gegen Erdogan-nahe Unternehmen. Und es gibt die Ankündigung, dass die CHP einen Kandidaten in Imamoglus Namen aufstellen werde, sollte der populärste Erdogan-Konkurrent bei der Wahl nicht zugelassen werden.

Dieser Widerstand, der alle bisherigen (erfolglosen) Anti-Erdogan-Protestwellen übertrifft, hätte es verdient, von der EU unterstützt zu werden. Doch Brüssel schweigt. Zu wichtig ist die Türkei, die fast ein Viertel aller Nato-Soldaten stellt, in Trump-Zeiten für Europas Verteidigung. Auch der Flüchtlingspakt bleibt für Erdogan eine Waffe, mit der er sich EU-Solidarität im Zweifel erzwingen kann. Die EU steckt in der Türkei-Frage also in der Zwickmühle zwischen den Werten, für die sie eigentlich stehen will, und Realpolitik.
KLAUS.RIMPEL@OVB.NET

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