Mehr als nur eine Rauferei: Die Gewalt unter Jugendlichen nimmt zu. Helfen Strafen? © IMAGO
München/Berlin – Als im Frühjahr 2023 in Freudenberg in Baden-Württemberg zwei Mädchen, zwölf und 13 Jahre, die zwölfjährige Luise erstochen haben, bewegte der Fall das ganze Land. Da die zwei Täterinnen noch nicht strafmündig waren, wurden sie nicht angeklagt. Stattdessen ist eine in einer Wohngruppe, die andere stationär in einer Psychiatrie untergebracht worden. Und das Jugendamt ist dazu verpflichtet, unter anderem für eine Wiedereingliederung der beiden zu sorgen. Nun nimmt die Debatte um eine Herabsetzung der Strafmündigkeit in Deutschland wieder Fahrt auf. Auslöser ist die am Mittwoch veröffentlichte Kriminalitätsstatistik, die eine Zunahme der Gewaltkriminalität bei Kindern und Jugendlichen zeigt: bei Jugendlichen gab es einen Anstieg um 3,8 Prozent, bei Kindern um 11,3 Prozent.
Vor dem Gesetz gelten Kinder bis 14 Jahre bislang als nicht schuldfähig und werden somit nicht strafrechtlich verfolgt. Allerdings kann das Jugendamt eingeschaltet und nach besonders schwerwiegenden Taten den Eltern das Sorgerecht entzogen werden. Die Folge wäre zum Beispiel eine Unterbringung in einem Heim. Bei Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahre gilt das Jugendstrafrecht.
Doch daran wollen Teile der Union rütteln, andere halten es für umstritten. „Die Diskussion, das Strafmündigkeitsalter von 14 auf zwölf Jahre abzusenken, halte ich für notwendig“, sagt Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) unserer Zeitung. Um eine Entscheidung treffen zu können, bräuchte es allerdings eine „interdisziplinäre Studie zum psychologischen Entwicklungsstand von Kindern“. Er habe das Bundesjustizministerium schon letztes Jahr dazu aufgefordert, eine solche Studie in Auftrag zu geben. Auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte Anfang Februar: „Wenn jede Woche oder jeden Monat was passiert im Bereich der 13-Jährigen, dann müssen wir doch reagieren.“
Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD), Sprecher der Innenminister, ist gegen eine Senkung. Er glaube, „dass wir dieses Problem mit polizeilichen Maßnahmen kaum effektiv angehen können“, sagte er gegenüber dem RND. Wenn die Analyse des BKA richtig sei, dass es sich um Spätfolgen der Corona-Zeit handele, dann müsse man mit pädagogischen Maßnahmen darauf reagieren.
Auch Dr. Inés Brock-Harder, Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, sieht in der Zunahme von Gewaltdelikten „Nachwirkungen der Corona-Krise“. Für sie macht die „Absenkung des Strafmündigkeitsalters wenig Sinn“, sagt sie unserer Zeitung. Vielmehr müsse vorgebeugt werden. Ein Teil der Kinder und Jugendlichen fühle sich abgehängt, sei von Armut betroffen und habe Misserfolge in der Schule, auch das sieht die Vorsitzende als Gründe für die Gewaltspirale. Das Problem: In Institutionen fehlt „entsprechende Prävention und die entsprechende Unterstützung für betroffene Jugendliche“, sagt Brock-Harder. Dafür brauche es pädagogische Fachkräfte, die zusätzlich in die Schulen gehen können. „Und wir brauchen flächendeckend Schulpsychologen.“ Das scheitere allerdings an zu wenig Personal.
Sogar Netflix greift schwere Gewalt unter Kindern und Jugendlichen auf. In der britischen Miniserie „Adolescene“ ersticht ein 13-Jähriger seine Mitschülerin. Anders als in Deutschland sind Jugendliche in England, Wales und Nordirland ab zehn Jahren strafmündig. Die Serie soll nun in Großbritannien in Sekundärschulen gezeigt werden – dort steigt wohl die Messergewalt.