Der Fall Imamoglu schürt Wut in der Türkei: Am Mittwoch haben wieder tausende Menschen in Istanbul gegen Erdogans Regierung protestiert. © Sahin/epa
München/Istanbul – Es sind die größten Proteste in der Türkei seit mehr als zehn Jahren: Inzwischen gehen seit drei Wochen regelmäßig tausende Menschen in Istanbul auf die Straße. Sie werden nicht müde, die Freilassung von Ekrem Imamoglu zu fordern – obwohl die Polizei immer wieder mit Tränengas und Gummigeschossen auf sie feuert. Nun dürfte sich die Stimmung weiter aufheizen, denn mit dem heutigen Freitag beginnt der Prozess gegen den festgenommenen Istanbuler Oberbürgermeister.
Imamoglu wird das erste Mal seit seiner Festnahme am 19. März öffentlich auftreten – ob die Verhandlung selbst für die Öffentlichkeit zugänglich sein wird, war bis gestern aber noch unklar. Die regierungsnahe Tageszeitung Daily Sabah berichtet, dass die Anhörung in einem Gerichtssaal innerhalb des Justizvollzugs-Komplexes im Istanbuler Bezirk Silivri stattfinden wird, wo Imamoglu auch derzeit in Haft sitzt.
Gegen Imamoglu laufen gleich mehrere Verfahren: Ihm wird Korruption und Unterstützung einer terroristischen Organisation vorgeworfen. Außerdem soll er den Generalstaatsanwalt von Istanbul, Akin Gürlek, sowie dessen Familie in einer Rede bedroht haben. Die Staatsanwaltschaft fordert eine Haftstrafe von bis zu sieben Jahren und vier Monaten.
Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) wirft dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vor, einen „Putsch gegen seinen eigenen Rivalen“ verübt zu haben. „Deshalb werden unser Widerstand und unser Kampf dagegen bis zum Ende andauern“, sagte CHP-Chef Özgür Özel. Die Opposition müsse den Präsidenten nun „zwingen“, vorgezogene Wahlen abzuhalten. Die CHP hatte Imamoglu zu ihrem Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2028 gewählt – er gilt als Erdogans größter innenpolitischer Rivale.
Seit der Festnahme Imamoglus steckt die Türkei in einer schweren innenpolitischen Krise. Mehr als tausend Menschen wurden bei Protesten festgenommen, derzeit sitzen 278 von ihnen in Untersuchungshaft. Inzwischen müssen sich 800 Menschen wegen ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen vor Gericht verantworten – ihnen drohen bis zu fünf Jahre Haft, in einem Fall sind es sogar bis zu neun Jahre.
Gestern wurden zudem zwei türkische Journalisten festgenommen, die zur Verhaftung Imamoglus recherchiert haben. Ihnen wird vorgeworfen, im Zusammenhang mit dem Verkauf eines lokalen Nachrichtensenders Drohungen ausgesprochen und versucht zu haben, Personen zu erpressen. Die Polizei durchsuchte ihre Wohnungen und beschlagnahmte Dokumente. Murat Agirel und Timur Soykan arbeiten für die türkischen Tageszeitungen „Cumhuriyet“ und „Birgün“ und sind für ihre investigativen Berichte über Korruption und organisiertes Verbrechen bekannt.
„Die Journalisten haben aufgedeckt, dass die Akte, die zu unserer Verhaftung führte, eine Fälschung war, und dass alle Anschuldigungen erfunden waren“, postete Imamoglu gestern auf der Plattform X. „Ihr habt solche Angst vor der Wahrheit, dass ihr völlig die Kontrolle verloren habt.“ Die Organisation Reporter ohne Grenzen erklärte, Soykan und Agirel hätten kürzlich Vorwürfe erhoben, dass es bei den Ermittlungen gegen Imamoglu und andere Bürgermeister der größten Oppositionspartei CHP Unregelmäßigkeiten gegeben habe. Die europäische Politik verhält sich derweil eher zurückhaltend. Noch-Kanzler Olaf Scholz hatte Imamoglus Festnahme lediglich als „bedrückend für die Demokratie in der Türkei“ bezeichnet, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nannte sie „äußerst besorgniserregend“. Größere Bemühungen um seine Freilassung gab es nicht. Der Grünen-Chef Felix Banaszak ist zwar diese Woche in die Türkei gereist, um Imamoglu zu treffen – vor Ort ist der Termin dann allerdings geplatzt.