WIE ICH ES SEHE

Das Kalenderbüchlein meiner Mutter für das Jahr 1945

von Redaktion

Früher hatten alle Menschen gedruckte Kalenderbüchlein, in die man seine Termine eintrug. So hat es meine Mutter getan noch im April 1945, genau vor 80 Jahren. Sie lebte in Rüdersdorf bei Berlin, das am 21. April den Russen übergeben wurde.

Der gedruckte Teil des Büchleins enthält wie heute die kirchlichen Feiertage wie Ostern – 1945 recht früh am 1. April –, Himmelfahrt, Pfingsten und so weiter. Fallen solche Tage wie Himmelfahrt oder Fronleichnam auf einen Wochentag, dann steht dazu der Satz: „Wird während des Krieges auf den nachfolgenden Sonntag verlegt.“

Zu den christlichen Tagen aber kommen dem Zeitgeist geschuldete Gedenktage, die wir heute zum Glück nicht mehr vermerken müssen. Da ist der 30. Januar (1933, Gründung des Dritten Reiches), der 11. März (Heldengedenktag), der 13. März (1938, Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich), der 20. April (Geburtstag des Führers, 1889), der 2. Juni (1941 ,Siegreicher Abschluss der Kämpfe um Kreta), der 25. Juni (1940, Waffenruhe mit Frankreich), der 1. September (1939, Deutscher Gegenangriff in Polen), der 3. September (1939, Kriegserklärung Englands und Frankreichs) – und so geht es weiter durch die ganze nationalsozialistische Lügen- und Schreckensgeschichte hindurch.

Die handschriftlichen Eintragungen meiner Mutter dagegen, so kurz vor dem Kriegsende in Berlin, sind voller alltäglicher Harmlosigkeiten. Da ist die Rede von einem „Opfergang-Abend“ bei uns am 23. März. Das war offenbar trotz allem ein gesellschaftliches Ereignis. Dabei hatte sie am 26. Februar zu vermerken gehabt: „Großangriff auf Alt-Rüdersdorf“, der Ort mit dem Kalkbergwerk, in dem man wohnte.

Und die Zeichen des Untergangs mehren sich, denn schon am 18. Februar vermerkt sie „Flüchtlinge bei uns“. Das waren Menschen, die aus den schon besetzten Ostgebieten bis an den Rand von Berlin gekommen waren und natürlich aufgenommen werden mussten.

Die großen Ereignisse der Weltgeschichte verlaufen immer zugleich mit großen Alltäglichkeiten. So steht im Kalender jede Woche vermerkt, wie viele Stunden die Zugehfrau, Frau Kaiser, gearbeitet hat. Denn, ob nun die Welt untergeht oder nicht, man wollte doch korrekt mit ihr abrechnen. Ebenso erscheinen Friseurtermine und der obligate wöchentliche „Damenkaffee“. Den gab es also auch noch kurz vor dem Ende.

Am 4. April endlich heißt es „Abreise von Berlin“. Ein höflicher Ausdruck ist das für die Flucht mit dem Zug bis nach Bremen. In Rüdersdorf-Kalkberge sind nach dem Russen-Einmarsch furchtbare Dinge geschehen. Es gab aber ein mutiges Arztehepaar Dr. Schwieder, mit einer perfekt Russisch sprechenden Frau. Die verstanden es, sich bei den Russen Respekt zu verschaffen. So haben sie vielen Menschen helfen können.

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