Kein Aufbruch, nirgends? Mit jedem Tag, der seit Bekanntgabe des schwarz-roten Koalitionsvertrags vergeht, wird der Chor der Kritiker lauter. Für AfD, Linke und Grüne gehört das zum oppositionellen Pflichtprogramm. Ernster zu nehmen ist der Einwand von Ökonomen, CDU, CSU und SPD schwelgten im Hier und Jetzt und vertagten die Zukunft. Es stimmt leider: Wer nach Ideen sucht, die Sozialsysteme demografiefest zu machen, blättert im 146 Seiten starken Koalitionsprogramm vergeblich. So wird die Rentenlücke auch wegen der Ausweitung der Mütterrente noch größer. Künftig sollen 150 Milliarden Euro statt wie bisher 120 Milliarden jährlich von den Steuerzahlern aufgebracht werden, um das Loch zu stopfen. Auch das immer akutere Pflegeproblem verdrängen die Volksparteien. Experten warnen, dass die Beiträge zu den Sozialsystemen von derzeit 42,5 Prozent bis 2035 auf mindestens 46, vielleicht sogar über 50 Prozent der Löhne steigen werden.
Doch lebt, wer von den drei Koalitionären mit ihren weltanschaulichen Differenzen Heldentaten erwartete, in einem politischen Fantasialand. Viel wäre schon gewonnen, wenn es gelingt, zunächst die akuten Herausforderungen zu bewältigen. Mit Trumps Zollkrieg, Putins Angriff auf Europa, der ungeregelten Migration und der hartnäckigen Wirtschaftsschwäche ist die künftige Regierung mit einem Krisen-Potpourri konfrontiert wie noch keine vor ihr, was zum Teil auch ihre Kurzatmigkeit erklärt. Hier immerhin liefert die Koalition in spe durchaus ein paar vernünftige Antworten: Die gewaltigen Investitionspakete für Rüstung und Infrastruktur erhöhen die Abwehrbereitschaft und schieben die Konjunktur an. Der „Investitions-Booster“, der es Betrieben erlaubt, 30 Prozent ihrer in Deutschland getätigten Ausrüstungsinvestition degressiv abzuschreiben, soll Produktion im Land halten. Entlastungen gibt es bei den Energiepreisen. Auch bei der illegalen Migration bietet das vereinbarte Bündel an Maßnahmen die Chance, die Zahlen deutlich zu reduzieren.
Wirtschaft, Asyl, Trump und Putin: Das sind die vier „offiziellen“ Aktionsfelder, mit denen die drei Koalitionäre ihr Programm für die nächsten vier Jahre legitimieren. Unausgesprochen gibt es aber noch ein inoffizielles fünftes, nämlich die AfD und die Frage, wie deren Siegeszug zu stoppen ist. Hinter vorgehaltener Hand gibt man in der CSU zu, dass die neuen teuren Wohltaten für Rentner, Mütter, Pendler, Wirte und Bauern auch dem Ziel dienen, wichtige Wählergruppen in der politischen Mitte zu halten.
Ob sich das am Ende auszahlt, hat die Merz-Koalition selbst in der Hand. Sie muss anders regieren als die streitbare Ampel vor ihr. Den Bürgern zu beweisen, dass hier eine Regierung seriös an der Lösung der Probleme arbeitet, ist wichtiger als all die kostspieligen Manöver, die sich CDU, CSU und SPD ausgedacht haben. Die jüngsten Misstöne zwischen den Chefs von CDU und SPD, Merz und Klingbeil, worauf man sich bei Mindestlöhnen und Einkommensteuern denn nun wirklich geeinigt hat, machen stutzig. Nur wenn es gelingt, Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik zurückzugewinnen, werden Betriebe investieren und Bürger konsumieren. Nur dann kann die Wirtschaft Tritt fassen. Das aber muss sie, damit Geld in die Staatskasse und die Sozialsysteme kommt und die teuren Wechsel auf die Zukunft, die der künftige Kanzler Merz gerade ausstellt, nicht in ein paar Jahren platzen.
GEORG ANASTASIADIS@OVB.NET