INTERVIEW

„Merz steht unter Druck“

von Redaktion

Politologin Münch erklärt den Koalitionsstreit

Schon jetzt uneins: Lars Klingbeil und Friedrich Merz. © Getty

München – Einkommensteuer, Mindestlohn, Taurus: Union und SPD streiten, bevor sie überhaupt mit dem Regieren anfangen. Das reißt alte Wunden auf. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, meint: Der Zoff war unvermeidlich.

Frau Münch, erwartet uns eine Ampel 2.0?

Da sehe ich immer noch große Unterschiede. Man kennt sich ja bereits, Union und SPD werden jetzt das fünfte Mal unter einem Kanzler der CDU gemeinsam regieren. Insofern ist Schwarz-Rot schon etwas sehr Vertrautes. Außerdem hat die neue Koalition gegenüber der Ampel einen großen Vorteil: Christian Lindner ist nicht mehr Bundesfinanzminister. Generell fallen zwei dogmatische Parteien – die FDP und die Grünen – weg. Wir dürfen also durchaus auf mehr Pragmatismus hoffen.

Warum dann der Zoff?

Der Koalitionsvertrag ist so vage gehalten, da ist Streit unvermeidbar. Die Verhandlungen waren ja bemerkenswert schnell abgeschlossen, und jetzt kennen wir auch den Grund dafür: Union und SPD haben vieles einfach aufgeschoben – und dazu steht auch noch alles unter Finanzierungsvorbehalt. Natürlich muss man früher oder später über einzelne Themen streiten. Ich frage mich nur, warum das jetzt und in aller Öffentlichkeit geschehen muss.

Merz sagt, die Einkommensteuer-Senkung ist nicht fix. Im Koalitionsvertrag steht, man wolle das „Mitte der Legislatur“ angehen. Wie passt das zusammen?

Das ist ein Widerspruch, bei dem die SPD zu Recht sagen kann: Das war anders vereinbart. Allerdings hat Merz die Einkommensteuer-Senkung nicht ausgeschlossen – sie hat für ihn einfach nicht oberste Priorität. Er hat klargemacht, dass der Koalitionsvertrag nicht jedes Detail festschreibt, und damit hat er natürlich Recht. Aber eine vertrauensbildende Maßnahme war das definitiv nicht.

Auch beim Thema Mindestlohn gibt es Zoff. Klingbeil behauptet, er soll 2026 auf 15 Euro steigen, Merz widerspricht. Wer hat nun Recht?

Merz‘ Hinweis, dass die Mindestlohn-Kommission darüber entscheidet, ist richtig. Es ist auch sinnvoll, dass die Politik nicht über die Löhne entscheidet. Ich habe nur nicht verstanden, warum er dieses Streitthema quasi auf dem Silbertablett präsentiert. Auch wenn er fachlich richtigliegt.

Besonders brenzlig ist das Thema Taurus: Merz will liefern, Pistorius zweifelt. Hat die Koalition also keine gemeinsame Ukraine-Strategie?

Das würde ich so nicht sagen. Aber die SPD hat keine. Und natürlich muss Pistorius, der ja sein Amt als Verteidigungsminister noch nicht sicher hat, Rücksicht auf seine Partei nehmen. Nicht nur der linke Flügel der SPD hat Angst vor einer Eskalation des Krieges, sollten wir der Ukraine dieses Waffensystem liefern – so geht es vielen Bürgern in Deutschland. Darauf hätte Merz Rücksicht nehmen können. Als Oppositionsführer konnte er sich so eindeutig äußern – aber jetzt, als künftiger Bundeskanzler, sollte man solche Forderungen umsichtiger und in Rücksprache mit dem Koalitionspartner formulieren.

Der Fast-Kanzler hat all diese Themen kurz vor dem SPD-Mitgliedervotum aufgemacht. War das strategisch klug?

Merz steht unter Druck. Die Union und vor allem er werden mit dem Vorwurf konfrontiert, in den Verhandlungen zu viele Zugeständnisse gegenüber der SPD gemacht zu haben. Deshalb will er jetzt im Nachhinein Themen klarer zugunsten der Union formulieren, als sie eigentlich vereinbart waren. Das kann man menschlich vielleicht verstehen, aber souverän wirkt das nicht. Und es ist strategisch höchst problematisch: Den Bürger derart zu verwirren und Vertrauen zu gefährden, nutzt am Ende nur der AfD.

Die SPD-Spitze warnt ihre Basis, dass die Union Mehrheiten mit der AfD suchen könnte. Ist die Gefahr real?

Das ist auch Theaterdonner: Natürlich will die SPD ihre Mitglieder zu einem Ja bewegen, damit sie mitregieren kann. Aber da spricht auch eine gewisse Sorge heraus. Vor allem, wenn man Jens Spahn zuhört, der nun einen anderen Umgang mit der AfD fordert. Ich unterstelle ihm nicht, mit der AfD koalieren zu wollen – aber wir erinnern uns alle an die Situation im Januar, als die AfD bereits Mehrheitsbeschafferin für die Union geworden war.

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