Kommt nun das Lügen-Verbot?

von Redaktion

Sie fordern ein freies Internet: Im Jahr 2019 protestierten Menschen bundesweit gegen eine EU-Urheberrechtsreform. Auch heute fürchten viele Nutzer eine Zensur im Netz, weil die neue Regierung gegen Bots vorgehen will. © Imago

München – Manchmal verstecken sich die Aufreger genau dort, wo sie niemand vermutet. Die 16 Mitglieder der Arbeitsgruppe „Kultur und Medien“ waren sich schnell einig, schneller jedenfalls als andere in den Gesprächen zwischen Union und SPD. Natürlich habe man hier und dort gerungen, heißt es aus dem Kreis der Verhandler. Aber Strittiges wurde bald abgeräumt. Und so fand auch eine Passage ihren Weg in den Koalitionsvertrag, die seither für Debatten sorgt. Kritiker sprechen von einem Lügenverbot oder, weniger knallig, einer Pflicht zur Wahrheit.

Es geht um den Abschnitt „Umgang mit Desinformation“, in dem die Koalitionäre skizzieren, wie sie systematisch gestreute Fake News, vor allem in Sozialen Netzwerken, bekämpfen wollen. Ein Satz macht stutzig. „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt“, heißt es dort. „Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können.“ Nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt? Wird da, etwas verklausuliert, das Lügen verboten?

Wer die Verhandler direkt fragt, stößt auf Unverständnis. Unsinn sei das, ein Pfeifen im Walde. Die Passage sei eine Reaktion auf die massive, demokratiegefährdende Zunahme von Fake News und Desinformation in Netzwerken wie X oder Telegram. Und: Jeder könne weiter Dinge behaupten wie die Erde sei eine Scheibe. Es gehe schlicht nicht um die Meinungsfreiheit des Einzelnen. Tatsächlich geht es im Text konkret um den „koordinierten Einsatz von Bots und fake Accounts“ – etwa aus Russland –, den die Koalition verbieten will. Auch die großen Online-Plattformen sollen stärker in die Pflicht genommen werden. Doch Kritiker sehen in der zitierten Passage ein Einfallstor für mehr.

„Ich rätsele nach wie vor, warum die Verhandler diesen Satz so in den Koalitionsvertrag geschrieben haben“, sagt der Augsburger Verfassungsrechtler Josef Franz Lindner, der sich seit vielen Jahren mit den Dimensionen der Meinungsfreiheit beschäftigt. Zwar sei es zutreffend, dass das Bundesverfassungsgericht sich einmal ähnlich geäußert habe. „Daraus folgt aber nicht, dass das Verbreiten falscher Tatsachen rechtswidrig oder sogar strafbar ist.“ Mit wenigen Ausnahmen, etwa der Leugnung des Holocausts, der Verleumdung oder üblen Nachrede, sei Lügen von der Rechtsordnung nicht verboten.

Das bestreiten auch die Verhandler nicht, im Gegenteil. Aber warum steht dieser Satz dann überhaupt im Text? Es sei „zumindest nicht abwegig zu befürchten, dass ein Straftatbestand der Verbreitung falscher Tatsachen eingeführt werden soll“, sagt Lindner. Lügen könnte damit bestraft werden und wer will schon garantieren, dass es am Ende nur die großen Player trifft?

Für Lindner ist das Teil einer insgesamt „problematischen Entwicklung“ mit Blick auf die Meinungsfreiheit. Schon überzogene oder pointierte Kritik an den Machthabenden gelte den Verfassungsschutzbehörden leicht als Delegitimierung des Staates, sagt er. Hinzu komme eine „übertriebene Anzeigentätigkeit“ von Politikern. Jüngstes Beispiel für ihn: David Bendels, Chefredakteur des rechtspopulistischen Online-Magazins „Deutschland-Kurier“, der für eine Fotomontage von Innenministerin Nancy Faeser zu sieben Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wurde. Selbst die frühere Grünen-Chefin Ricarda Lang fand das unverhältnismäßig. „Es entsteht der Eindruck, dass der Staat härter zugreift“, sagt Lindner. „Das kann einschüchternde Wirkung auf die Bürger haben.“

Zur Passage im Koalitionsvertrag gibt es allerdings auch völlig andere Bewertungen. Michael Kubiciel, ebenfalls Jura-Professor in Augsburg, schrieb unlängst einen längeren Beitrag bei X zur laufenden Debatte. Er verweist auf den grundgesetzlichen Schutz der Lüge und glaubt nicht, dass daran gerüttelt wird. Ein allgemeines Verbot der Verbreitung falscher Tatsachen wäre aus seiner Sicht jedenfalls „nur schwer zu rechtfertigen“, sei „aber auch offenkundig nicht geplant“. „Es geht nicht um ein individuelles Lügenverbot, schon gar nicht um Strafrecht“ – sondern darum, der Medienaufsicht (also den Landesmedienanstalten) ein Vorgehen gegen strategische Desinformation zu ermöglichen.

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