KOMMENTARE

Dumm und abstoßend, aber nicht strafbar

von Redaktion

Sylter „Ausländer raus“-Gesänge

Wie steht es um die Meinungsfreiheit in Deutschland? Schlecht, urteilte US-Vizepräsident J. D. Vance bei seiner berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Konservative und recht(sradikal)e Denkfiguren – die Übergänge sind fließend – würden im woken Europa zu schnell der „Cancel Culture“ zum Opfer fallen, während rot-grüne Meinungen den Diskurs beherrschten und auch linksradikale Äußerungen eher toleriert würden. Die Kritik des Trump-Vizes war polemisch und zielte wie üblich bewusst auf Spaltung, hatte aber, das erklärt die enorme Aufregung, einen wahren Kern: Immer mehr Bürger geben an, aus Angst vor Ächtung ihre Meinung nicht mehr frei zu äußern. Man kann nur mutmaßen, wie viele ihren Protest dagegen stumm artikulieren, indem sie ihr Wahlkreuz bei der AfD setzen.

Verstärkt wurden die Zweifel zuletzt noch durch einen Plan der neuen Bundesregierung: Das im Volksmund „Lügenverbotsgesetz“ genannte, gewiss gut gemeinte Rechtsvorhaben von Union und SPD soll gezielte Falschinformationen, Desinformationskampagnen und Fake News unter Strafe stellen. Dafür gibt es Gründe, gerade mit Blick auf die vom Kreml gesteuerten Lügenkampagnen zur Manipulation der öffentlichen Meinung und Destabilisierung unserer Demokratie mit Hilfe der Dreckschleudern, die sich Soziale Netzwerke nennen. Doch der Grat, auf dem Schwarz-Rot wandelt, ist schmal: Schnell können politisch dehnbare Gesetze zum staatlichen Zensurinstrument werden, erst recht, wenn illiberale Kräfte sich wie in Ungarn der Staatsgewalt bemächtigen. Was ist künftig noch legitime Meinung, und wo beginnt kriminelle Desinformation?

Für den jüngsten Knaller im Minenfeld der deutschen Meinungsfreiheit sorgte diese Woche die Staatsanwaltschaft Flensburg: Die Strafverfolger stuften die Sylter „Ausländer raus“-Gesänge, die im Sommer die Republik bis hinauf zum Kanzler und zum Bundespräsidenten in einen Ausnahmezustand der Entrüstung versetzten, als nicht strafbar ein, da sie eine von Artikel 5 des Grundgesetzes geschützte Meinungsäußerung darstellten. Dafür ist den Staatsanwälten Lob zu zollen: Das Gegröle des jungen Sylter Partyvolks war abstoßend, vulgär und dumm. Aber Meinungsfreiheit schließt auch das Recht auf Dummheit ein. Ein liberaler Rechtsstaat, der mit Kanonen auf Spatzen schießt, begibt sich auf den Weg zur Ungarisierung. Dorthin, wo Leute wie J.D. Vance ihn gerne hätten.


GEORG.ANASTASIADIS@OVB.NET

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