Ausgerechnet am Vorabend des Kriegsgedenkens schob sich für ein paar Stunden der düstere Schatten von Weimar wieder über Deutschland. Das historisch beispiellose Scheitern von Friedrich Merz im ersten Kanzler-Wahlgang ist ein Menetekel, das über den Tag hinausweist: Um die politische Mitte ist es schlecht bestellt, wenn Abgeordnete lieber zündeln, als angesichts der Bedrohungen durch innere und äußere Feinde ihrer Verantwortung für unser Land und seine Demokratie gerecht zu werden. Um es mit den drastischen Worten des Grünen Volker Beck zu sagen: Wer gestern mit Nein stimmte, wollte „wohl die Republik brennen sehen“. Für einen Moment blickte das Land in den Abgrund.
Zwar konnten die Fraktionsführungen mit einem Feuerwehreinsatz in den eigenen Reihen die Flammen im zweiten Wahlgang löschen. Doch ist der Schaden angerichtet: Die Abstimmungsschande im Bundestag hat die Architekten der Koalition, Friedrich Merz und Lars Klingbeil, beschädigt und international blamiert. Deutschland in der Hand von Polit-Hasardeuren – in den Hauptstädten unserer Freunde und Gegner reibt man sich die Augen. Noch schlimmer ist der Vertrauensverlust der Bürger. Viele zweifelten schon bisher an Schwarz-Rot. Nach der Zitterpartie im Bundestag müssen sich CDU, CSU und SPD von AfD-Co-Chef Chrupalla höhnisch fragen lassen, was diese Koalition wert sei.
Frustrierte Abweichler und Zukurzgekommene mag es auch in den Reihen der Union gegeben haben. Doch wurde vor allem in der SPD so lange am Kreml-Märchen vom vermeintlich bösen „rechten“ Merz mitgestrickt, dass die Parteiführung etliche Abgeordnete offenbar nicht mehr einfangen konnte. Ärger über zerstörte Karrierepläne und Personalentscheidungen des trotz der Wahlpleite sehr forsch agierenden SPD-Chefs kamen hinzu. Nach dem Hinterhalt von gestern muss die deutsche Sozialdemokratie sich nun selbst prüfen: Ist sie in ihrer Zerrissenheit überhaupt regierungsfähig? Auch die Weimarer Republik scheiterte einst nicht an der Stärke der Radikalen, sondern an der Schwäche der Demokraten.
So weit sind wir zum Glück noch nicht. Niederlagen haben Merz nicht stoppen können: Vor 23 Jahren rasierte ihn Angela Merkel, zweimal verlor er knapp im Ringen um den CDU-Vorsitz. Aber der knorrige Sauerländer ist immer noch da – und endlich an seinem großen Kanzlerziel angekommen. Sechs fehlende Stimmen im ersten Wahlgang werden ihn, der sich selbst auf einer historischen Mission zur Rettung der Heimat sieht, nicht aufhalten. Darauf sollten auch jene hoffen, die gestern ihre Schadenfreude über das Kanzlerdrama kaum zügeln konnten. Denn Merz ist entgegen manch linker Mär nicht Wegbereiter der AfD, sondern die letzte Bastion, die sie von der Macht trennt. Die Verräter aus der Koalition und ihre Claqueure sollten sich ab jetzt am Riemen reißen. Denn manchmal folgen der Schadenfreude Tränen der Verzweiflung.
GEORG.ANASTASIADIS@OVB.NET