Der Kanzler und die Notlage

von Redaktion

Antrittsbesuch in Brüssel: Kanzler Merz mit EU-Kommissionschefin von der Leyen. © Nicolas Tucat/AFP

München – Der Kanzler sagt, für ihn schließe sich ein Kreis. Seine politische Karriere habe vor 35 Jahren in Brüssel begonnen, jetzt kehre er als Regierungschef dorthin zurück. „Für mich ist das ein bisschen ‚coming home to Europe‘“, meint Friedrich Merz (CDU), als er am Freitag neben EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen steht. Dabei hat er, gerade drei Tage im Amt, Europa schon ein wenig durchgerüttelt.

Grund ist der schärfere Migrationskurs, der mehr Grenzkontrollen bedeutet und zu deutlich mehr Zurückweisungen führen soll, Asylsuchende inklusive. In Polen ist man darüber nicht sehr glücklich, auch Österreich pocht auf die Einhaltung von EU-Recht. Merz wiederum, der in Europa integrativ wirken will, bemüht sich bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel um Besänftigung. „Es gibt hier keinen deutschen Alleingang“, betont er. Die Nachbarn seien informiert, alles sei im Einklang mit EU-Recht.

Die Frage, wie weit die neue schwarz-rote Regierung für die versprochene Migrationswende geht, sorgt allerdings auch hierzulande für Verwirrung. Berichte, er habe eine „nationale Notlage“ ausgerufen, wies der Kanzler am Freitag zurück, nachdem sein Sprecher dies schon tags zuvor dementiert hatte. Parallel dazu spielte der neue Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) im ZDF aber auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union an. Der ist, auch wenn der Begriff darin nicht fällt, eine Notlagen-Regelung.

Artikel 72 erlaubt es den Mitgliedstaaten, unter bestimmten Umständen von EU-Regeln abzuweichen, um die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ zu gewährleisten. Zeitweise steht dann nationales Recht wieder über EU-Recht. Eine konkrete Folge ist das Aussetzen des Dublin-Abkommens: Statt Asylbewerber über ein kompliziertes Verfahren dorthin zurückzuschicken, wo sie erstmals EU-Boden betreten haben, weist man sie an der Grenze ab.

Es ist ein ziemliches Begriffs-Kuddelmuddel, aber nur auf den ersten Blick. Salopp gesagt: Die Zurückweisungen geschehen wohl auf Basis von Artikel 72 – ob man das Notlage nennt oder nicht, ist wurscht. De facto muss der Kanzler nichts ausrufen, um den Artikel zu aktivieren. Er muss es einfach tun und hoffen, dass die Entscheidung, sollte geklagt werden, juristisch Bestand hat. Juristen weisen darauf hin, dass letztlich der Europäische Gerichtshof darüber entscheiden könnte, ob in Deutschland die Voraussetzungen für Artikel 72 gegeben sind. Im schlimmsten Fall kommt auch die EU-Kommission zu einer anderen Einschätzung als Berlin – und startet ein Vertragsverletzungsverfahren.

So weit, darf man vermuten, wird es nicht kommen. Zumal die neue Regierung nicht mit voller Härte durchgreift. Vulnerable Gruppen, etwa Schwangere, Kranke oder Kinder, sollen nicht von Zurückweisungen betroffen sein. Laut dem Migrationsexperten Daniel Thym von der Uni Konstanz erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass die Gerichte den Kurs nicht gleich einbremsen.

Unterstützung bekommen Dobrindt und Merz, wenig überraschend, aus Bayern. „Die Politik des einfachen Durchwinkens ist vorbei“, erklärte Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am Freitag und sprach von einem „unmissverständlichen Signal“ nach außen. Je klarer die neue Position sei, „desto mehr Verantwortung werden andere Länder übernehmen und illegale Einreisen verhindern“.

Herrmann kündigte an, dass Bayerns Polizei die für Grenzkontrollen zuständige Bundespolizei künftig an sieben weiteren Grenzübergängen unterstützen wird, darunter Oberaudorf und Burghausen. Das sei notwendig, weil die EU-Außengrenzen bislang nicht ausreichend sicher seien. Herrmann wirft zudem Italien und anderen EU-Staaten vor, ihrerseits EU-Recht zu brechen, indem sie das Dublin-Verfahren nicht befolgen. „Das darf Deutschland nicht länger hinnehmen.“

Merz kommt in Brüssel ein ähnlich gepfefferter Satz nicht über die Lippen. Letztlich aber geht es genau darum: Das Signal an Migranten und EU-Nachbarn zu senden, dass es so nicht weitergeht. Während die Grünen das Vorgehen kritisierten und eine Klarstellung zur „Notlage“ forderten, sprang der frühere Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier der Regierung bei. Der „Neues Osnabrücker Zeitung“ sagte er, Zurückweisungen seien nach deutschem und EU-Recht „möglich und richtig“.
MIT DPA

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