Speisesaal in einem Kinderkurheim in Wittdün auf Amrum. © Kreisarchiv Lippe
Berlin/München – Was noch in den 1980er-Jahren in einem Kindererholungsheim auf Norderney passierte, erscheint heute unglaublich. Britta K., die um 1980 mehrmals ins Seehospiz geschickt worden war, erinnert sich: „Wir wurden so genommen, also richtig die Hand unter das Kinn, und kriegten Essen immer reingestopft, obwohl wir nicht mehr konnten. Wenn wir erbrochen haben, mussten wir es wieder essen […]. Ich erinnere mich an eine Situation, wo ein Kind auf den Boden gedrückt wurde und musste das Erbrochene essen wie ein Hund, also wurde mit dem Gesicht reingedrückt.“
Dokumentiert ist diese Aussage neben vielen anderen Augenzeugen-Darstellungen in einem umfangreichen Forschungsbericht über die Situation in Kinderkurheimen, den die Berliner Humboldt-Universität jetzt vorgestellt hat. Auf 789 Seiten haben die Wissenschaftler unter der Leitung von Prof. Alexnader Nützenadel historische Dokumente aus rund 60 Archiven der Caritas, der Diakonie, des Roten Kreuzes und der Rentenversicherung durchforstet und Augenzeugen befragt.
Zwischen 1951 und 1990 verbrachten nach Schätzungen der Autoren 11,4 Millionen Kinder und Jugendliche „Kuraufenthalt“ in rund 2000 Kinderkur- und -heilstätten in der alten Bundesrepublik. 367 davon allein in Bayern. Bei guter Ernährung und an frischer Luft sollten Asthma, Unterernährung oder Übergewicht behandelt werden. Aber: „Viele Kinder hatten in den Kinderkureinrichtungen keine erholsame oder heilsame Zeit“, ist das Ergebnis der ersten umfassenden Studie. Betroffene berichteten von mangelhaften hygienischen Bedingungen, sie seien eingeschüchtert und teilweise gedemütigt worden. In zahlreichen Heimen war es den Kindern nicht erlaubt, nachts auf die Toilette zu gehen. Wer ins Bett gemacht hatte, wurde vor der Gruppe bloßgestellt, von Heimleitern geschlagen. Briefe an die Eltern wurden kontrolliert oder abgefangen.
Ein Besichtigungsbericht der Regierung von Oberbayern vom 23. September 1948 offenbarte unhaltbare Zustände im Kindererholungsheim „Haus Bergfried Bayrischzell“, das Platz für 25 bis 35 Kinder hatte. Tatsächlich war das Heim mit bis zu 50 Kindern belegt. „Es waren daher alle Schlafräume überbelegt, schlecht gelüftet und sonnenlos. Die Betten (…) waren dreckig und teils eingenässt. Für die Kinder standen lediglich zwei Toiletten zur Verfügung. Stattdessen fand sich mitten im Raum ein bis zum Rand gefüllter Nachttopf mit Spuren des Überlaufens ringsherum.“ Es sei das „bei weitem schlechteste“ Heim, was bis zu diesem Zeitpunkt angetroffen worden war. Es wurde empfohlen, das Heim aufzulösen –doch es wurde bis 1960 weiterbetrieben.
Die jetzt vorliegende Studie wird als wichtiger Schritt zur Aufarbeitung der Geschehnisse gesehen.
CLAUDIA MÖLLERS