Missbrauch: Kirche in Regress genommen

von Redaktion

Mindestens jedes zweite Missbrauchsopfer war Ministrant oder Ministrantin. © S. Gollnow

Hamburg – Dass Missbrauchstaten in den Kirchen als Arbeitsunfall gelten können, elektrisierte vor drei Jahren tausende Betroffene. Mittlerweile erhalten 140 von ihnen Leistungen von der gesetzlichen Unfallversicherung, konkret: von der Verwaltungs-Berufsgenossenchaft (VBG) mit Sitz in Hamburg. Gezahlt werden Therapie- und Behandlungskosten, in etwa 30 besonders schweren Fällen sogar eine Erwerbsminderungsrente von 250 bis 1400 Euro im Monat.

Die VBG versichert 36 Millionen Menschen, darunter 1,7 Millionen kirchliche Ehrenamtler wie Messdiener. Dass Missbrauch als Arbeitsunfall gelte, solle nicht das Leid der Betroffenen banalisieren, so die VBG, sondern sei die Rechtslage. Die Unfallversicherung deckt jedes „Ereignis“ ab, das in innerem Zusammenhang mit der Arbeit steht und zu einem (auch psychischen) „Schaden“ führt. Was sie den Opfern zahlt, sagt die VBG nicht. Doch in 16 Fällen versucht sie bereits, sich das Geld von der Kirche zurückzuholen.

Seit der katholische Missbrauchsskandal 2010 bekannt wurde (und später der evangelische), gibt es Kritik daran, dass der Staat den Kirchen die Aufarbeitung und den finanziellen Ausgleich für die Opfer überlässt. Mit der VBG hat sich erstmals eine öffentlich-rechtliche Institution eingeschaltet. Die Kirchen müssen Fälle melden und Akten aushändigen. Außerdem sind VBG-Leistungen einklagbar – ein Quantensprung für die Betroffenen, die sich oft als Bittsteller erleben.

Was sie den Opfern „in Anerkennung des Leids zahlen“, das bestimmen die Kirchen selbst. Die evangelische Kirche regelt das in ihren Landeskirchen; so gab es in Westfalen seit 2021 in 31 Fällen insgesamt 390 000 Euro (im Schnitt 12 600 Euro). Auf katholischer Seite besteht seit 2021 die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) in Bonn, die bislang 2400 UKA-Bescheide über 57 Millionen Euro (im Schnitt 25 400 Euro) erlassen hat.

Ein zweiter Weg zu finanziellem Ausgleich ist ebenfalls steinig und unsicher. Betroffene können auf Schmerzensgeld und Schadensersatz klagen. Dafür fehlen aber oft nicht nur Kraft und Geld, auch die Erfolgsaussichten sind mickrig: Die Kirche schmettert Klagen meist mit dem Hinweis auf Verjährung ab, zuletzt Anfang Mai in Magdeburg.

Diese Lage änderte sich vor drei Jahren, als sich die VBG ins Spiel brachte: eine dritte Chance auf finanzielle Anerkennung. Seit Mai 2022 sind über 750 Meldungen zu Fällen sexualisierter Gewalt bei ihr eingegangen, 600 von den Kirchen, 150 von Betroffenen. Allerdings lehnt die VBG jeden zweiten Fall ab.

Dennoch ist es ein Schritt vorwärts. Die Bistümer haben Betroffene, die als VBG-Fall infrage kommen, kontaktiert und mit deren Einverständnis gemeldet. Das Erzbistum München-Freising etwa leitete bislang 20 Fälle weiter, acht Betroffene gingen selbst zur VBG. Münster übermittelte 36 Fälle, Paderborn 39.
ELISABETH ELLING

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