WIE ICH ES SEHE

Die innere Tragik des Thomas Mann

von Redaktion

Am 6. Juni 1875 wurde Thomas Mann in Lübeck geboren. Unbestritten war er der größte deutsche Romancier und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Während der Hitler-Zeit als Emigrant in den USA wurde er der Repräsentant schlechthin der wahren deutschen Kultur. Seine Radioansprachen für „Deutsche Hörer“ haben schon während des Krieges dazu beigetragen, Deutschland über die Verbrechen des Nationalsozialismus aufzuklären. Sie zu hören war im Hitler-Deutschland verboten, aber heimlich hörten es eben doch viele.

Wenn jetzt Feiern zu Thomas Manns Jubiläum vorbereitet werden, dann ist es nicht ganz so wie im Jahr 1949, als Goethes 200. Geburtstag mit einer großartigen Rede von Thomas Mann in der Frankfurter Paulskirche festlich begangen wurde. Aber viel weniger ist es auch nicht, und so haben schon zwei deutsche Thomas Mann-Orte, nämlich Lübeck im Norden und Bad Tölz im Süden, für den 6. Juni zu Festveranstaltungen eingeladen.

Zum Jubiläum ist auch eine neue Biografie erschienen, diesmal von Tilmann Lahme „Thomas Mann: Ein Leben“. Sie umfasst 590 Seiten, obwohl man eigentlich annehmen sollte, dass die Thomas Mann-Forschung nicht wirklich viel Neues über den großen deutschen Autor und seine berühmte Familie mehr aufdecken kann. Schon in seinen Tagebüchern hat Thomas Mann seine erotischen Nöte als Homosexueller bekannt gemacht. Die neue Biografie rühmt sich nun nicht zu Unrecht, noch neue und weitere Details seiner libidinösen Verstrickungen aufzuzeigen. Insgesamt kann man es nur tragisch nennen, wie dieser arme Mann hinter der Maske eines kindergesegneten bürgerlichen Ehemannes an seiner nicht gelebten Homoerotik gelitten hat.

Über Jahrhunderte mussten gerade auch Künstler ihre wahren Neigungen verbergen. Schon die Liebessonette eines Shakespeare richten sich in vielen Fällen nicht an Frauen, sondern verdeckt an Männer und Jünglinge. Als ab 1897 die ersten Schriften von Thomas Mann erschienen, wurde der englische Schriftsteller Oscar Wilde wegen gelebter Homosexualität zu Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt. Nie wieder hat der gebrochene Mann sich davon erholt. Seine 1898 erschienene Ballade aus dem Zuchthaus von Reading ist erschütternd bis heute.

Thomas Mann blieb der strafende Arm des Staates auch deswegen erspart, weil er sich nicht erlaubte, seine als „Perversion“ empfundene Neigung auszuleben. Im Tagebuch spricht er vom Leiden an seiner Geschlechtlichkeit: „Wird sie mich denn zugrunde richten?“ Er rettete sich durch eine diätische Lebensweise in akribischer Ordnung, sodass seine Schwiegermutter Pringsheim einmal sogar meinte, er sei ein „Pimperl“. In Wahrheit war er wie sein Held Hans Castorp ein „Sorgenkind des Lebens “.

Uns bedeutet das geniale Werk des vor 150 Jahren Geborenen unendlich viel mehr als die innere Tragik des Autors. Von der aber sollten wir lernen, welches Glück die Befreiung von sexuellen Vorurteilen ist und wie schlimm ein Rückfall wäre. Auch unsere heutige Welt ist davor keineswegs sicher.

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