München – Jens Siegert war Leiter des Moskauer Büros der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung und lebt seit 1993 in Moskau, zuletzt schrieb er das Buch „Wohin treibt Russland?“ (Hirzel Verlag). Unsere Zeitung sprach mit dem Kreml-Experten über die für Montag geplanten Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul.
Russland startet eine Großoffensive. Will Putin doch noch Kiew erobern?
Das kann niemand außer Putin selbst beantworten. Aber alles deutet darauf hin, dass er die Ukraine auf die eine oder andere Weise kontrollieren will. Die aktuellen Angriffe müssen vor dem Hintergrund der derzeitigen Verhandlungen betrachtet werden. Die russische Seite hat immer wieder erklärt, ein Kompromiss könne nur aufgrund der, wie sie das nennen, „Realitäten am Boden“ gefunden werden. Deshalb versucht die russische Armee fast auf Teufel komm raus, weiter vorzurücken.
Sind die Verhandlungen in Istanbul nur eine Farce?
Solange es keinen vereinbarten und auch eingehaltenen Waffenstillstand gibt, sollte man von diesen Verhandlungen nicht sehr viel erwarten. Denn das ist die Voraussetzung dafür, zu sehen, dass beide Seiten es wirklich ernst meinen. Die Ukraine hat eine Waffenruhe angeboten, Russland hat das abgelehnt. Wenn es aber eine Waffenruhe gibt, wäre das ein Zeichen, dass die Verhandlungen auch von Russland ernst genommen werden.
Nimmt Putin Donald Trump als Vermittler ernst?
Die USA sind auch unter Trump zu groß und zu stark, als dass man sie nicht ernst nehmen könnte. Putin spielt auf Zeit. Und er hat gesehen, dass Trump zwar unkalkulierbar ist, aber letztlich bislang nichts unternommen hat, was Russland schadet. Seit Joe Bidens letzten Sanktionen im Januar gab es keinen neuen Druck mehr aus den USA. Gleichzeitig gibt es auch keine neuen Unterstützungszusagen für Kiew. Zudem hat Trump ohne jede Gegenleistung eine ganze Reihe von Positionen aufgegeben, die Russland eindeutig als Gewinn verbuchen kann. Es läuft also sehr gut für Russland.
Wäre der Krieg schlagartig vorbei, falls Putin gestürzt würde oder stirbt?
Das kann niemand voraussagen – aber dann gäbe es eine Chance, die es unter Putin nicht gibt. Nach Putin werden so oder so die Karten neu gemischt. Es kann sein, dass ein Nachfolger seinen Kurs fortsetzt, es kann auch noch schlimmer werden. Aber erst mit dem Ende von Putin gäbe es die Chance, dass sich in der Kreml-Elite jemand durchsetzt, der findet, wir sind auf dem falschen Weg – und diesen Krieg beendet.
Wird nach Putin Chaos in Russland ausbrechen?
Das ist das grundsätzliche Problem aller dieser personalisierten Diktaturen, dass das Nachfolgeproblem ungelöst ist. Ein ideologisches System, wie es die Sowjetunion oder das frühere China war, kann das innerhalb der Machteliten der Partei lösen. In Russland ist das anders: Es kann sich niemand hervorwagen, denn sobald es einen designierten Nachfolger gäbe, wäre Putins Allmacht eingeschränkt. Nach Putin wird es also in jedem Fall eine Art Vakuum, eine zwar nicht völlig andere, aber doch offenere Situation geben.
Haben Sie wegen Ihrer Bücher Probleme in Russland?
Ich hatte bislang keine Probleme, aber seit Erscheinen meines letzten Buches bin ich tatsächlich nicht mehr in Russland gewesen. Es gibt immer mehr Druck auf Leute, die sich so über Putin und den Krieg äußern, wie ich es tue. Bisher wurden Ausländer zwar nicht belangt. Aber mit Äußerungen wie eben in diesem Interview breche ich russische Gesetze. Und es kann jederzeit passieren, dass man dafür bestraft wird. Es gibt keine Rechtssicherheit in Russland.
INTERVIEW: KLAUS RIMPEL