Wilhelm Mahler mit seinem Fotoalbum: Er erinnert sich intensiv an das Zugunglück.
Dieses Bild machte Mahler von seinen Söhnen kurz nach der Katastrophe. © Dagmar Rutt (2)
Krailling/Warngau – Wilhelm Mahlers Söhne hatten als Kinder eine schier unerschöpfliche Energie. Und wäre das nicht so, wäre er ziemlich sicher am 8. Juni 1975 gestorben.
Der Sonntag war ein herrlicher Wandertag, erinnert sich der 90-Jährige aus Krailling. Er bricht morgens mit seinen drei Söhnen Matthias (14), Thomas (12) und Philipp (9) zu einer Tour auf die Tutzinger Hütte auf. Der jüngste Sohn ist noch zu klein, er bleibt zu Hause bei Mahlers Frau. Seine Jungs sind aufgedreht. Also wandern die vier weiter: über die Achselköpfe und das Brauneck bis nach Lenggries. Auf dem Rückweg sieht er von Weitem am Bahnhof den abfahrbereiten Zug stehen. Die vier rennen los. Der Lokführer lehnt sich aus dem Fenster: „Schickt‘s euch, sonst fahren wir ohne euch!“
Mahler und seine Söhne steigen vorne ein und setzen sich ins Abteil hinter der Lok. Während sich Mahler erschöpft von der Wanderung zurücklehnt, spielen seine Jungs im Gang Fangen. Es dauert nicht lange, bis sich Fahrgäste beschweren. Für Ärger hat Wilhelm Mahler keine Kraft mehr – also zieht er mit seinen Söhnen nach hinten. Doch auch dort sind die Burschen den Fahrgästen zu laut. „Also sind wir bis ans Ende des Waggons gelaufen“, erzählt er. Das rettet ihm und seiner Familie das Leben.
Obwohl der Moment 50 Jahre zurückliegt, erinnert sich Mahler an viele Details. Sein ältester Sohn sitzt neben ihm am Gang. Ihm sagt er, er solle Ausschau nach dem Schaffner halten, damit sie die Zugtickets nachlösen können. Er selbst blickt aus dem Fenster in die Landschaft. „Und auf einmal sah ich nur noch Himmel“, erzählt er. Alles geht viel zu schnell, um es zu begreifen. Mit 100 km/h kollidiert der Zug aus Lenggries mit einem Zug aus Holzkirchen. Mahler erinnert sich an einen Knall. Der Waggon, in dem er und seine Söhne sitzen, wird in die Luft geschleudert, landet mit dem Dach nach unten. Mahler liegt zwischen seinen Söhnen. Im Zug ist es totenstill. Er blutet am Kopf, ist sonst unverletzt. Genau wie seine Söhne. Die vier klettern ins Freie – und stehen vor einem gigantischen Trümmerfeld. Nach und nach realisiert er, was passiert ist. Es gibt ein Foto, das er von seinen Söhnen vor dem Zug gemacht hat. Heute kann er das nicht mehr nachvollziehen. „Wir standen alle unter Schock.“ Sie beobachten, wie Rettungskräfte Tote und Verletzte aus den Trümmern bergen. Dann werden sie von Einsatzkräften in einen Waggon geschickt, um ihnen die grausamen Szenen zu ersparen.
Es dauert lange, bis die Rettungskräfte Zeit haben, sich um die Leichtverletzten zu kümmern. Die großen Münchner Krankenhäuser sind da längst schon überfüllt. Die Mahlers werden ins Krankenhaus Agatharied gebracht. Der 14-jährige Matthias hat die meisten Prellungen erlitten, während die Ärzte ihn versorgen, versucht Mahler, an ein Telefon zu kommen. Er fürchtet, dass seine Frau von dem Zugunglück gehört hat und in großer Sorge ist. Genauso ist es auch. „Wir sind am Leben“, sagt er. Für seine Frau sind es die vier schönsten Worte, die sie je von ihm gehört hat.
Erst viel später sieht Wilhelm Mahler in den Nachrichten die Bilder des Unglücks. Seine Söhne nennt er bis heute seine Schutzengel. Er hat nie wieder mit ihnen geschimpft, wenn sie irgendwo getobt haben. Es dauerte nicht lange, bis er das nächste Mal in einen Zug gestiegen ist. „Ich habe nie ein mulmiges Gefühl gehabt.“ Den Jahrestag des Unglücks vergisst er inzwischen meistens. „Es ist durch schönere Tage in meinem Leben verdrängt worden.“
KATRIN WOITSCH