Koordination ohne moderne Technik: In den 70ern musste Erwin Prechtl alles per Hand protokollieren. © privat
Die beiden Eilzüge kollidierten und wurden ineinander geschoben. Beide Lokführer und 39 weitere Menschen starben.
Die Bilder bleiben für immer im Kopf: Erwin Prechtl zeigt ein Foto der ineinander verkeilten Züge. © Rainer Lehmann
Warngau/Freising – Es gibt nicht viele Tage in seinem Leben, die Erwin Prechtl so intensiv in Erinnerung hat wie den 8. Juni 1975. Kein Jahr vergeht, an dem er an diesem Tag nicht kurz innehält. Er denkt dann an seinen verstorbenen Kollegen Günter Höcherl. Die beiden haben nie viele Worte gebraucht, wenn sie gemeinsam gedanklich zurückgereist sind – zum schwärzesten Arbeitstag, den sie in der BRK-Einsatzzentrale je erlebt haben.
Der 8. Juni 1975 ist ein Sonntag. An Werktagen ist die Einsatzzentrale in München mit sieben Mann besetzt, sonntags nur mit drei. Und an diesem Tag sind Prechtl und Höcherl zu zweit, ihr Kollege ist krank geworden. Es ist ein ruhiger Arbeitstag. Bis 18.35 Uhr. Dann geht der Funkspruch ein: schweres Zugunglück in Warngau. Zahl der Toten und Verletzten: unbekannt, vermutlich sehr hoch. Prechtl und Höcherl tauschen einen Blick. Die Koordination dieses Großeinsatzes liegt jetzt in ihren Händen.
„Wir haben sofort einen Hubschrauber angefordert“, erinnert sich Prechtl. Auch um schnell an mehr Informationen zu kommen. Nach einer Viertelstunde senden die ersten Einsatzkräfte per Funk eine Nachricht: „Schickt alles, was ihr schicken könnt!“
Prechtl hat in den Tagen nach dem Unglück alle Zeitungsberichte in einem blauen Ordner abgeheftet. Hin und wieder blättert er darin. Aber eigentlich muss er nichts nachschauen, er hat alle Fakten zu dem schweren Zugunglück im Kopf. Auch nach 50 Jahren noch. Damals, in der Einsatzzentrale, habe er einfach funktioniert, sagt er. Viel Zeit zum Nachdenken war nicht. Die Bilder der ineinander verkeilten Züge sah er erst am nächsten Tag in den Nachrichten.
Die Bahnstrecke zwischen Holzkirchen und Lenggries ist 1975 noch eingleisig. Seit Kurzem gilt der Sommerfahrplan. Er legt nicht fest, in welchem Bahnhof sich die Züge begegnen. Es gibt auf dieser Strecke keinen Streckenblock, der verhindert hätte, dass zwei Fahrdienstleiter das Signal auf Fahrt stellen. So kommt es zu einem Missverständnis mit katastrophalen Folgen. Beide Fahrdienstleiter reden bei der Absprache aneinander vorbei. Sie bemerken den Irrtum zu spät – die Kollision der Züge können sie nicht mehr verhindern. Denn 1975 gibt es noch keinen Funkkontakt zu den Lokführern. Um 18.31 Uhr prallen die beiden Eilzüge in einer Kurve zusammen. 41 Menschen sterben, 126 werden verletzt.
All das wissen Prechtl und Höcherl noch nicht, als sie mit der Koordination beginnen. Es gibt zu der Zeit noch kein bayernweites Rettungsstellen-Netz, sie müssen mit den umliegenden Wachen einzeln Kontakt aufnehmen, um abzufragen, ob noch Fahrzeuge bereitgestellt werden können. „Es gab in ganz Bayern nur einen einzigen Rettungshubschrauber“, berichtet Prechtl. Keine Computer, keine Handys. Alles wird per Hand dokumentiert. Prechtl und Höcherl schicken alle verfügbaren Rettungsteams an die Unglücksstelle. Stundenlang bedient Prechtl die Telefone. Er notiert Kapazitäten der Krankenhäuser, koordiniert Rettungswagen, fordert sechs weitere Hubschrauber von Polizei, Bundeswehr und Bundesgrenzschutz an. Und er beruhigt Angehörige, die verzweifelt in der Zentrale anrufen und hoffen, dort Informationen zu bekommen.
Die meisten BRK-Dienststellen in Bayern haben 1975 noch keine eigenen Einsatzzentralen. Deshalb gehen an Wochenenden die Notrufe bei den Diensthabenden zu Hause ein. Im Kreisverband Miesbach sind am Abend des 8. Juni alle verfügbaren Kräfte an der Unglücksstelle. Die Frau des Diensthabenden versucht, den Telefondienst aufrechtzuerhalten. Doch sie ist mit den vielen Anrufen heillos überfordert. „Verständlicherweise“, sagt Prechtl. Den Rettungseinsatz bei einem so schweren Unglück kann einer allein nicht koordinieren. Prechtl und Höcherl müssen es in dieser Nacht zu zweit schaffen.
Gegen 22 Uhr endet ihre Schicht. Alle Toten sind geborgen, die Verletzten werden in Krankenhäusern versorgt. Als Erwin Prechtl heim nach Freising fährt, weiß er noch nicht, dass 41 Menschen ihr Leben verloren. Von seinem Kollegen verabschiedet er sich an diesem Tag mit einem Handschlag. „Für heute haben wir‘s erst mal geschafft“, sagt er. Damals ist er 31 Jahre alt – er ahnt noch nicht, wie sehr ihn der 8. Juni 1975 durch sein Leben begleiten wird.
Kein Jahrestag ist vergangen, an dem Erwin Prechtl nicht an das Zugunglück gedacht hat. Und an die vielen Toten, für die jede Hilfe zu spät kam. „Solche Tage machen demütig“, sagt er nachdenklich. Er hat in den Jahrzehnten beim BRK viele Unglücke und Katastrophen miterlebt, selten ist ihm eine so nah gegangen wie diese. „Bis heute habe ich Warngau im Hinterkopf, wenn ich in einen Zug steige“, sagt er.
Die 27 und 39 Jahre alten Fahrdienstleiter sind später zu Freiheitsstrafen verurteilt worden. In Bayern gibt es nun 13 Rettungshubschrauber und 26 Leitstellen. „Und zum Glück ist auch hinsichtlich Personal und Technik viel passiert“, sagt Prechtl. Von den Familien der Zuginsassen haben er und Günter Höcherl viele Dankeskarten bekommen. Für viele waren sie an diesem Abend wichtige Ansprechpartner in der Angst. Prechtl hat alle Briefe aufgehoben. Sie stecken in seinem blauen Ordner – zwischen den Zeitungsberichten über das Zugunglück.