Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte postete dieses Foto: Neun Kinder konnten in die Ukraine heimkehren.
Berlin/Kiew – Ein Bus stoppt vor der Schule. Der Fahrer öffnet die Tür, winkt die Kinder zu sich. Es geht auf einen Ausflug, verspricht er. Es gibt neue Klamotten und anständiges Essen. Die Jungen und Mädchen ahnen nichts Böses, fürchten sich wohl auch, der Aufforderung nicht nachzukommen. Sie steigen ein und verlieren alles, was sie bisher kannten. Mit solch perfiden Methoden verschleppe Russland in den besetzten Gebieten ukrainische Kinder, heißt es in Medienberichten.
Allein in den ersten Monaten des russischen Großangriffs seien etwa 19500 Fälle von Zwangsdeportation registriert worden, sagt die Hilfsorganisation „Save Ukraine“ unserer Zeitung. Sie führt regelmäßig Rettungsmissionen durch, um im Ukraine-Krieg entführte Kinder wieder in die Ukraine zu holen. 2023 reagierte der Internationale Gerichtshof auf Deportationen ukrainischer Kinder nach Russland mit einem Haftbefehl gegen Kreml-Chef Wladimir Putin. Zwei Jahre später: Stille. Die verschleppten Kinder der Ukraine geraten aus dem Blick. Auch bei den laufenden (Friedens-)Verhandlungen spielen sie keine Rolle.
„Die Zeit ist nicht auf unserer Seite“, warnt „Save Ukraine“. In den besetzten Gebieten könne Russland ungestraft handeln. Und die Erfahrung zeige: Sobald Russland erfährt, dass „Save Ukraine“ versucht, ein Kind ausfindig zu machen und zurückzubringen, verschwindet es. „Sie können adoptiert werden, ihren Namen ändern lassen, in eine andere Region verlegt oder in Waisenhäusern versteckt werden, sodass es fast unmöglich ist, sie zu finden“, erklärt die zivilgesellschaftliche Organisation. Die Kinder seien überall in Russland verstreut, sie landeten etwa in Pflegefamilien oder Heimen. Insgesamt 663 Kinder, darunter 146 Waisenkinder hat Save Ukraine nach eigenen Angaben dennoch zurück in die Ukraine bringen können.
„Besonders schlimm trifft es ukrainische Waisenkinder“, meint Autorin und Journalistin Sabine Oelmann. Nach ihnen suche keine Familie. Daher sei die Arbeit von Hilfsorganisationenso wichtig. Oelmann ist Co-Autorin des Buches „Gestohlene Leben: Die verschleppten Kinder der Ukraine“ und sprach für ihre Recherchen mit Betroffenen. Im Gespräch mit unserer Redaktion malt sie sich aus, was in den Köpfen der verschleppten Kinder vor sich gehen muss: „Was? Keiner holt mich? Bin ich denn nichts wert? Habt ihr mich vergessen? Liebt mich niemand?“ Einige seien schon vor drei Jahren aus ihrer Heimat verschleppt worden. Andere bereits 2014, als Russland die Krim annektierte.
Insgesamt ist das Interesse am Thema gering. Es gibt eben keine Fotos vom Schlachtfeld, keine Explosionen. „Save Ukraine“ beschreibt es als einen „schleichenden, grausamen Prozess der Auslöschung der Identität – im Stillen“. Laut der Organisation werden das Verschleppen der Kinder oft als „humanitäres“ Problem dargestellt, statt als eine schwere Verletzung des Völkerrechts. ANNE-KATHRIN HAMILTON