„Die Albträume haben niemals aufgehört“

von Redaktion

30 Jahre nach dem Völkermord von Srebrenica ist die politische Lage hochgefährlich

Eine muslimische Frau trauert auf einem frischen Massenfriedhof nahe Srebrenica um Angehörige. Unser Bild entstand im Juli 2004. © HRVOJE POLAN/AFP

Srebrenica – „Es war frühmorgens am 6. Juli, als die ersten Schüsse fielen“, erinnert sich Nedžad Avdic. Zunächst dachte seine Familie, dass es sich bloß um eine weitere Provokation der bosnisch-serbischen Armee handle. Doch diesmal wurde auf Menschen geschossen. Avdic war 17 Jahre alt, als das Massaker von Srebrenica vor 30 Jahren begann. Innerhalb weniger Tage töteten serbische Nationalisten mehr als 8000 muslimische Bosniaken – unter ihnen auch Avdics Vater und vier Onkel. Der Völkermord, der als tragischer Höhepunkt des Bosnienkriegs (1992-95) gilt, belastet Bosnien-Herzegowina bis heute.

Auch Avdic wird immer noch verfolgt: Nachts, von Uniformierten, vor allem im Sommer. „Die Albträume haben nie aufgehört“, erzählt der Ökonom. Nachdem die ersten Schüsse gefallen waren, versteckte er sich mit seinen Verwandten im Wald. Kurz darauf wurde die Gruppe von Soldaten der serbischen Teilrepublik Srpska gefangen genommen. „Manche schlugen sie so brutal zusammen, dass sie nicht mehr laufen konnten.“ In den kommenden Tagen sah er, wie Nachbarn, Freunde und Fremde blutüberströmt starben. Er selbst wurde an einer Hinrichtungsstätte angeschossen, Projektile von Maschinengewehren bohrten sich durch seine Brust, Arm und Bein. „Neben mir fielen die Menschen reihenweise um. In dem Moment wollte ich nur noch sterben.“ Wie durch ein Wunder überlebte Avdic – eine Tatsache, die er erst Tage später realisierte, als Dorfbewohner seine eiternden Wunden versorgten.

Den Haag, drei Jahrzehnte nach dem Massaker: Ratko Mladic, ehemaliger Militärchef der bosnischen Serben, verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in einem UN-Gefängnis. Vorigen Monat beantragte seine Verteidigung die Freilassung des 83-Jährigen. Er soll unheilbar krank sein. Serge Brammertz, Chefankläger des Internationalen Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe sieht das Ansuchen gespalten: Einerseits sei die Möglichkeit auf einen würdigen Tod genau das, was eine zivilisierte Gesellschaft von der Barbarei der Kriegsverbrecher unterscheide. Andererseits wolle er im Sinne der Opfer und Hinterbliebenen „alles in unserer Macht Stehende tun“, damit Mladic im Gefängnis bleibt.

Brammertz zeigt sich enttäuscht über die langsame Aufarbeitung des Genozids. Mit Blick auf 7500 Opfer, die immer noch als vermisst gelten, sagt er: „Für jeden Vermissten gibt es zumindest einen, der weiß, wo sich die Person befindet. Sei es der Arbeiter, der die Person vergraben hat, der Busfahrer, der sie zur Exekution gebracht hat, oder der Baggerfahrer, der das Massengrab ausgehoben hat.“ Stattdessen herrscht Schweigen. Während Nationalisten offen den Völkermord leugnen und Kriegsverbrecher als „Helden“ feiern. „Die Wunden bleiben offen wegen der andauernden Beschwörung von Krieg und Leid durch politische Eliten“, sagt Adnan Huskic, Politologe in Sarajevo. Entsprechend kritisch sieht er die mögliche Freilassung von Kriegsverbrecher Mladic, die Nationalisten wohl bestärken würde. „Mladic ist die Personifizierung des Völkermords.“

Aufholbedarf gibt es auch bei der regionalen Zusammenarbeit. Einige kroatische oder serbische Ex-Militärs flohen in die Nachbarländer, nahmen deren Staatsbürgerschaft an. „Das bringt uns in die unglaubliche Situation, dass in der Mitte Europas mutmaßliche Völkermörder 30 Kilometer von dem Ort entfernt leben, wo sie ihre Straftaten begangen haben“, so der UN-Ankläger. Die Verurteilung der Schuldigen sei eine „Voraussetzung, um der Versöhnung überhaupt eine Chance zu geben“.

Davon scheint die Vielvölkernation aus Bosniaken, Serben und Kroaten allerdings noch weit entfernt. Das Zusammenleben wird verhindert von ethnischen Nationalisten. Der bekannteste unter ihnen: Serben-Führer Milorad Dodik. Der Präsident der Republika Srpska droht regelmäßig, sein Serbengebiet von dem Balkan-Staat abzuspalten. Zuletzt liefen Ermittlungen wegen verfassungsfeindlichen Aktivitäten gegen ihn. Unabhängig davon ist Dodik im Februar wegen der Missachtung des Hohen Repräsentanten, Christian Schmidt, zu einem Jahr Haft verurteilt worden. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig.

Besonders brisant: Er verfügt über engste Kontakte zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Beobachter befürchten, dass die bosnischen Serben das Friedensabkommen von Dayton kippen und Putin einen zweiten kriegerischen Konflikt in Europa schüren könnte.

Nedžad Avdic glaubt aber noch an Bosnien-Herzegowina: Er gehört zu den Rückkehrern, die sich Jahre nach dem Völkermord wieder in den Dörfern und Städten um Srebrenica niederließen. Dort leugneten selbst heute noch viele den Völkermord. „Etliche Jugendliche, die nach dem Krieg geboren wurden, sind zu größeren Nationalisten geworden als die Kriegsverbrecher. Sie sind ständig Propaganda ausgesetzt und haben keine Chance, dazuzulernen.“ Wie lange Avdic seine drei Töchter diesem vergifteten Klima noch aussetzen könne, sei fraglich. „Aber sollte ich tatsächlich wieder wegmüssen von hier, gehe ich mit Stolz: Ich habe es versucht.“ MARKUS SCHÖNHERR

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