Das Ratlos-Quartett (v.li): Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD, unten) eilt den Kollegen Jens Spahn (CDU), Alexander Hoffmann (CSU) und Matthias Miersch (SPD) zur Hilfe. © dpa
München – Es ist noch nicht mal Mittag, da versammelt sich die schiere Ratlosigkeit vorne an der Regierungsbank. Der Kanzler verschränkt konsterniert die Arme, der SPD-Chef schaut stumm nach unten, sein Generalsekretär und der Verteidigungsminister tuscheln kurz. Und der Rest der Abgeordneten wirkt, um es schamlos zu beschönigen, auch nicht gerade fröhlich.
Der Grund für die Berliner Trübsal, die sich später am Rednerpult in hitzige Wut verwandelt, ist schnell erzählt: Nach einem Morgen voller Wendungen, Wirrungen und erbitterter Vorwürfe hat sich die Koalition widerwillig dazu entschlossen, die Wahl dreier neuer Verfassungsrichter abzublasen. Die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf, über deren kontroverse Standpunkte etwa zum Thema Abtreibung zuletzt viel geschrieben wurde, war Teilen der Unions-Fraktion einfach nicht vermittelbar.
Dass es schwierig werden würde, hatte sich seit Tagen abgezeichnet. Verfassungsrichter müssen mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt werden. Aber nicht nur die Linkspartei bockte bei einem der Kandidaten – auch aus der Union gab es Widerstand. Von bis zu 40 Abweichlern war die Rede. Noch am Donnerstagabend versuchten Kanzler Friedrich Merz und Fraktionschef Jens Spahn, sie weichzuklopfen und eine doppelte Blamage zu verhindern: die der Regierung, die sich in einer so wichtigen Frage nicht einigen kann. Und die des Unions-Fraktionschefs, der SPD und Grünen Zusagen machte, aber die Stimmung in der eigenen Truppe nicht spürte.
Es misslingt. An Spahn entlädt sich denn auch ein guter Teil des Oppositions-Zorns. „Es ist eine unverantwortliche Situation, in die Sie, Jens Spahn, uns gebracht haben“, ruft Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann wütend vom Rednerpult und wirft dem Kollegen „Unfähigkeit als Fraktionschef“ vor. Das Bundesverfassungsgericht und das Parlament seien schwer beschädigt. Linksfraktionschefin Heidi Reichinnek sieht einen „absoluten Skandal“, AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann zürnt, in der Regierung herrsche völlige Instabilität.
Oppositionsprosa? Nicht allein. Auch SPD-Fraktionsgeschäftsführer Dirk Wiese kann seinen Ärger kaum zügeln. Er vergleicht den Streit um Brosius-Gersdorf mit den Gift-Debatten in den USA, spricht von einer „Hetzkampagne“ gegen eine „hoch angesehene Staatsrechtslehrerin, die fachlich über jeden Zweifel erhaben“ sei. Schließlich knöpft er sich den Koalitionspartner direkt vor. Die SPD habe zuletzt bei schwierigen Entscheidungen gestanden. Künftig erwarte er, „dass auch andere stehen“. Parteichef Klingbeil spricht später ebenfalls von einer „sehr klaren Erwartung“, was künftige Kompromisse angeht.
Es klingt schon fast wie ein Ultimatum. Umso mehr, als es nicht der erste Streit der noch jungen Bundesregierung ist, die es doch besser machen wollte als die implodierte Ampel. Der Anspruch wackelte schon beim Zwist um die Stromsteuersenkung für alle. Die Richter-Debatte aber geht tiefer – es stehen nicht Milliarden auf dem Spiel, sondern Grundüberzeugungen.
Wie viele Emotionen mitspielen, zeigt drastisch die Verwirrung um angebliche akademische Verfehlungen der Richter-Kandidatin: Der selbst nicht unumstrittene „Plagiatsjäger“ Stefan Weber erklärte am Donnerstagabend, er habe „23 Textparallelen“ zwischen Brosius-Gersdorfs Dissertation und der Habilitationsschrift ihres Mannes gefunden. Die Union nutzte das am Morgen danach, um den Druck auf die SPD zu erhöhen, die Kandidatin fallen zu lassen. Zwar relativiert Weber seine unbewiesenen Vorwürfe kurz darauf. Aber da ist der Entschluss, den Bundestag über die Wahl-Verschiebung abstimmen zu lassen, schon gefasst.
Ausgestanden ist damit nichts, im Gegenteil. Als die Unions-Fraktion sich am Freitagnachmittag zur Krisensitzung zusammensetzt, fordern die Grünen, die Richterwahl nächste Woche nachzuholen. Merz und Spahn müssten jetzt zeigen, dass die Koalition noch eine Mehrheit im Parlament zustande bringe, erklären Haßelmann und Co-Fraktionschefin Katharina Dröge. „Wir können keine Hängepartie über den Sommer akzeptieren, in der das Land im Unklaren darüber ist, ob wir noch eine stabile Regierung haben.“