Erstmals seit Kriegsbeginn gibt es große Demos gegen Selenskyj. Besonders junge Ukrainer sehen die Entmachtung der Antikorruptionsbehörden durch seine Regierung kritisch. © AFP
Kiew/München – Es sind vor allem junge Menschen, die sich am Dienstag zu Tausenden im Zentrum von Kiew versammeln. Auf dem Platz vor dem Präsidialamt stehen Studenten in Karohemden Schulter an Schulter mit Soldaten in Uniform. „Schande, Schande“, skandiert die enttäuschte Menge immer wieder. Die große Demonstration richtet sich – erstmals seit Beginn des russischen Angriffskriegs – gegen die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Auch am Mittwochabend gehen wieder Tausende auf die Straßen, wie AFP-Reporter aus Kiew berichteten.
Konkret ist es das Gesetz Nummer 12414, das die Wut der Demonstranten auf sich zieht. Der umstrittene Beschluss des Parlaments beendet die unabhängige Arbeit zweier ukrainischer Antikorruptionsbehörden. Trotz des wachsenden Unmuts der Bevölkerung setzte Selenskyj am Dienstag seine Unterschrift darunter.
Der Chef des Nationalen Antikorruptionsbüros, Semen Krywonos, sieht die Korruptionsbekämpfung in der Ukraine gefährdet. Faktisch seien zwei Institute – das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP) – in die Abhängigkeit überführt worden, warnt er. NABU und SAP sollen künftig der Kontrolle des Generalstaatsanwalts unterstellt werden. Dieser wird wiederum von Selenskyj ausgewählt. Kritiker sehen darin eine tiefgreifende Verschiebung der Machtstrukturen und befürchten laut „Handelsblatt“, dass der Präsident so „Ermittlungen mit einem Telefonanruf stoppen“ könne.
Auch den jungen Ukrainern bereitet das Sorgen. „Ist das Gesetz Nummer 12414 das Ende der Demokratie?“, stand auf dem Plakat einer Demo-Teilnehmerin. Außerdem kritisierten die Demonstranten, dass das Gesetz den von der Ukraine angestrebten EU-Beitritt erschwere. Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU) ist ebenfalls dieser Meinung. „Ich erwarte von der Ukraine die konsequente Fortsetzung der Korruptionsbekämpfung“, erklärte er am Mittwoch. EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos bezeichnete das Gesetz sogar als „ernsthaften Rückschritt“ auf dem Weg der Ukraine zu einem EU-Beitritt.
Selenskyj verteidigte indessen die Maßnahmen gegen NABU und SAP. Bei einem „offenen und hilfreichen“ Treffen mit Vertretern der beiden Behörden sei ein Aktionsplan zur Korruptionsbekämpfung ausgearbeitet worden. „Die Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung wird funktionieren. Nur ohne russischen Einfluss, davon muss sie befreit werden.“ Seit Jahren lebten Antikorruptions-Beamte, die aus der Ukraine geflohen seien, aus „irgendwelchen Gründen“ im Ausland – „in sehr schönen Ländern und ohne rechtliche Konsequenzen – und das ist nicht normal“, so Selenskyj.
Ob diese Erklärung Selenskyjs Kritiker in der Ukraine überzeugen wird, ist fraglich. Die Demonstrationen gegen das Gesetz 12414 wecken Erinnerungen an den Euromaidan. Was im Herbst 2013 als Protest für die Annäherung an die EU begann, wurde zu einer Bewegung für Demokratie – und gegen Korruption. 2014 stürzten die Ukrainer den korrupten Präsidenten Viktor Janukowitsch. Daraufhin wurde mithilfe von EU und USA ein System unabhängiger Behörden zur Bekämpfung von Bestechlichkeit geschaffen. Dennoch ist die Ukraine dem Korruptionsindex der NGO Transparency International zufolge hinter Russland weiterhin das zweitkorrupteste Land Europas. Darum wird die Entmachtung von NABU und SAP nun im Inland sowie im Ausland besonders kritisch gesehen.