Tatort Sozialstaat: Für die Bekämpfung von Leistungsmissbrauch ist die Bundesagentur für Arbeit zuständig. © dpa
München/Berlin – Von „mafiösen Strukturen“ hatte die Bundessozialministerin im Juni aus ihrer Heimat, dem Ruhrgebiet, berichtet. Banden, die Menschen aus anderen europäischen Ländern holen, um sie mit Mini-Arbeitsverträgen auszubeuten. „Gleichzeitig lassen sie diese Menschen Bürgergeld beantragen und schöpfen die staatlichen Mittel dann selbst ab!“, empörte sich Bärbel Bas (SPD). Nun gibt es zu diesem Phänomen auch offizielle Zahlen. Aus dem vergangenen Jahr sind der Bundesregierung 421 Fälle von „bandenmäßigem Leistungsmissbrauch“ beim Bürgergeld bekannt. In 209 dieser Fälle wurden Strafanzeigen erstellt, geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervor. 2023 wurden mit 229 noch deutlich weniger Fälle beim „bandenmäßigem Leistungsmissbrauch“ beim Bürgergeld erfasst. 52 davon führten damals zu einer Strafanzeige. Der Trend geht also deutlich nach oben. Im aktuellen Jahr bis einschließlich Mai wurden bereits 195 solcher Fälle gezählt, die bisher zu 96 Strafanzeigen führten.
Die Jobcenter sprechen dann von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch, wenn bei Bürgern aus anderen EU-Ländern ein Arbeitsverhältnis oder eine selbstständige Tätigkeit nur vorgetäuscht wird, um einen Ausschluss von Sozialleistungen wie dem Bürgergeld zu umgehen. Dabei treten laut der Antwort Personen oder organisierte Gruppen als Arbeitgeber oder Vermieter auf und kassieren Teile der Sozialleistungen ab. Der Bürgergeld-Regelsatz beträgt 563 Euro, zusätzlich werden Miet- und Nebenkosten abgedeckt, sofern sie dem Job-Center angemessen erscheinen.
„Diese kriminellen Aktivitäten müssen ein Ende haben“, sagt Bayerns Arbeitsministerin Ulrike Scharf (CSU) unserer Zeitung. Ihre Forderung: „Die geplante Sozialstaatsreform, die die im Koalitionsvertrag vereinbarte Neuausrichtung des Bürgergelds umsetzt, muss auch hier ansetzen.“
Denn unabhängig von den Betrugsfällen, hat die schwarz-rote Koalition im Koalitionsvertrag eine Reform des Bürgergelds zu einer „neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende“ festgeschrieben. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat sich sogar für die komplette Streichung des Bürgergelds für Arbeitsunwillige ausgesprochen und strebt eine Umsetzung noch in diesem Jahr an. „Es wird ein Herbst, der sich gewaschen hat“, sagte er kürzlich Welt TV. „Jemand, der partout nicht arbeiten will, der wiederholt Arbeit ablehnt – da muss der Staat davon ausgehen, dass der gar nicht bedürftig ist.“ Die SPD steht dem Vernehmen nach bei der parlamentarischen Umsetzung der Vorhaben allerdings derzeit stark auf der Bremse.
Unterdessen mahnen Deutschlands Arbeitgeber zu noch weit größeren Sozialstaatsreformen. „Wenn unser Sozialstaat kollabiert, dann nützt es keinem. Und er wird kollabieren, wenn wir so weitermachen“, sagt Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Nötig sei eine offen und ehrlich geführte Diskussion „darüber, was wir an Sozialleistungen nicht mehr bezahlen können“, sagt Dulger. „Wir können uns nicht mehr alles leisten, was wir uns wünschen.“ Dulger weist auch auf Arbeitgeberberechnungen hin, nach denen die Verwaltungskosten in den Sozialkassen 25 Milliarden Euro betragen. „Da ist viel Raum für Verbesserungen. Wir verpulvern viel Geld für Ineffizienzen.“
Die angekündigte Kommission zur Reform des Sozialstaats müsse zügig ihre Arbeit aufnehmen. „Ich erwarte, dass die Kommission so schnell wie möglich konkrete Punkte vorlegt, wie man die Sozialversicherungen reformieren und verbessern kann“, sagte Dulger. „Wir müssen weg von den hohen Lohnzusatzkosten. Wir brauchen deshalb dringend ausgabensenkende Strukturreformen.“ Im Koalitionsvertrag wurde anvisiert, dass die Expertenrunde im vierten Quartal 2025 ein Ergebnis präsentieren soll.MIT DPA/AFP»