Ein Pflegeplatz im Heim wird zum Luxusgut: Im Juli mussten Pflegebedürftige im Schnitt 3100 Euro aus eigener Tasche zahlen. © Weller/dpa
München – Manchmal wiederholt sich Geschichte einfach: Die Wirtschaft stagniert, Reformen sind dringend notwendig und die Regierung setzt Kommissionen ein, um die Krisen zu bewältigen. So lässt sich der Zustand in Deutschland beschreiben – heute, ebenso wie vor 22 Jahren. Es ist 2003, SPD-Kanzler Gerhard Schröder hat eben erst mit seiner Agenda 2010 dem Reformstau den Kampf angesagt. Die eingerostete Wirtschaft soll in Gang kommen. Wegen der alternden Gesellschaft muss eine nachhaltige Finanzierung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung her. Und um die Sozialsysteme zu stabilisieren, nimmt ein Gremium unter dem Vorsitz des Ökonomen Bert Rürup seine Arbeit auf.
Es wird gezankt, unausgegorene Vorschläge werden durchgestochen. Zwischenzeitlich droht Kanzler Schröder sogar damit, das Gremium aufzulösen. Nach acht Monaten Arbeit legt die Kommission Maßnahmen vor. 275 Seiten plus Anhang. Der Bericht geht tief ins Detail, beim Thema Krankenversicherung glänzt er aber vor allem durch Uneinigkeit.
Während sich Rürup – nach dem die spätere Rürup-Rente benannt ist – für gehaltsunabhängige, pauschale Krankenkassenbeiträge starkmacht, hatte sich ein zweites Lager gebildet. Ein enger Vertrauter von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach, will lieber eine Bürgerversicherung. Einige Vorschläge zur Rente, wie das gesetzliche Rentenalter von 67, werden umgesetzt. Andere verpuffen.
Vielleicht war es diese Erfahrung, die Lauterbach später von einer Kommission zum Thema Pflege abhält. 21 Jahre später fordert nämlich die bayerische Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) den SPD-Bundesgesundheitsminister Lauterbach auf, eine „Zukunftskommission Pflege“ zu errichten – gemeinsam mit Bund und Ländern. „Das wurde leider damals nicht aufgegriffen“, sagt Gerlach heute. Doch jetzt, 2025, ein Jahr und eine Regierung später, bekommt sie eine solche Kommission.
Mit dem „Zukunftspakt Pflege“ soll eine „große Pflegereform“ ausgetüftelt werden, kündigt die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) Anfang Juli an. Die zwei Arbeitsgruppen Versorgung und Finanzierung sollen schon Ende des Jahres ihre Ergebnisse vorstellen. Denn die Zeit drängt.
Während die Rürup-Kommission mit rund 3,1 Millionen Pflegefällen bis zum Jahr 2030 rechnete, ist dieser Wert mit 5,7 Millionen Pflegebedürftigen schon jetzt weit überschritten. Der Bundesrechnungshof diagnostiziert der Pflegeversicherung bis 2029 eine Finanzlücke von insgesamt 12,3 Milliarden Euro. Gleichzeitig steigt die Eigenbeteiligung für Pflegeheime kontinuierlich an. Allein für Juli 2025 war er 8,3 Prozent höher als im Vorjahr. Mittlerweile müssen Pflegebedürftige für ihren Heimplatz 3100 Euro monatlich aus der eigenen Tasche zahlen, hat der Verband der Ersatzkassen errechnet.
Druck macht da auch der Sozialverband VdK Bayern. Die Vorsitzende Verena Bentele warnt vor einer „pflegerischen Riesenkatastrophe“. „Hier rächt sich einfach, dass der Staat die Verantwortung für das Anbieten von Pflegeplätzen der freien Wirtschaft überlassen hat“, sagt sie. „Das mag vielleicht vor 30 Jahren noch sachgerecht gewesen sein, hat uns aber jetzt in eine riesige Sackgasse geführt.“ Pflege müsse zur kommunalen Pflichtaufgabe werden, finanziert von Bund und Ländern.
Auch das bayerische Gesundheitsministerium pocht darauf, dass die Unterschiede der Bundesländer bedacht werden müssen. Kommende Defizite könnten zudem nicht einfach über höhere Beitragssätze ausgeglichen werden, heißt es aus dem Ministerium. „Wichtig ist, dass ein ausgewogener Finanzierungsmix aus Beiträgen, Eigenvorsorge und Steuerzuschüssen gefunden wird“, sagt Gesundheitsministerin Gerlach unserer Zeitung. Vor allem versicherungsfremde Leistungen, wie Rentenbeiträge für pflegende Angehörige, müssten künftig aus Steuermitteln und nicht von der Pflegeversicherung finanziert werden.
Es dürften harte Verhandlungen werden. Doch „es gibt keine Zeit für Grundsatzdebatten ohne Ziel“, mahnt Warken. Vielleicht ein kleiner Wink an die Rürup-Kommission.