Realität in Kiew: Frauen weinen vor einem zerstörten Wohnhaus nach einem Raketenangriff. © Lukatsky/dpa
Kiew – Sirenengeheul – es ist wieder Luftalarm in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Militärnahe Telegramkanäle melden eine russische Drohne, die aus Osten kommend über den Fluss Dnipro in Richtung Stadtzentrum fliegt. Entfernt ist vereinzeltes Maschinengewehrfeuer zu hören, doch nähert sich das markante Brummen der anfänglich Mopeds getauften Kampfdrohnen iranischer Bauart bedrohlich. Eine Rakete steigt auf, ein Knall. „Update: vernichtet durch die Flugabwehr“, ist zu lesen.
Doch die Ruhe, sie währt nicht lange. Dutzende weitere Drohnen und später auch Raketen bereiten den drei Millionen Kiewern eine Nacht voller Angst und Schrecken. Seit Jahresbeginn setzt das russische Militär mehr Drohnen ein als noch vor einem Jahr und konzentriert sich in seinen Angriffen auf Ziele in einer Region. Kaum eine Nacht in Kiew vergeht mehr ohne Luftalarm. Selbst die Flugabwehr der besonders geschützten Hauptstadt wird immer häufiger durchbrochen. Bewohner der Stadt sprechen von einem Glücksspiel.
Im historischen Stadtzentrum eilen Menschen, mit kleinen Taschen, Isomatten und Decken ausgestattet, auf das grün leuchtende „M“ der Metro-Station „Goldenes Tor“ zu. Mütter nehmen ihre Kinder an die Hand, die in ihren Rucksäcken das Notwendigste für die Nacht dabeihaben. Schlafende Kinder tragen die Eltern im Arm hinunter in die tiefe U-Bahn-Station, die in sowjetischer Zeit auch als Schutz vor einem US-Atomangriff gedacht war. Vor dem Eingang stehen bereits Raucher und lauschen, den Blick immer wieder auf das Handy richtend, dem Abwehrkampf in der Ferne.
Einige richten sich gleich im Eingangsbereich der Station ein. Sie sitzen auf Treppen, den Heizkörpern oder legen sich auf eine Isomatte und versuchen im Halbdunkel der Notbeleuchtung und dem regelmäßigen Piepen der Automaten zu schlafen. Die meisten begeben sich unter die Erde.
Wenig später erschüttern gut ein Dutzend Explosionen innerhalb kurzer Zeit die Stadt. In einem Innenhof in Metronähe heulen die Auto-Alarmanlagen los, so heftig sind die Druckwellen. Auch die transparente Glasfront zum Hof knackt merklich unter dem Druck, hält aber stand und birst nicht. Eine junge Frau mit modischem Kurzhaarschnitt zuckt beim Donnern heftig zusammen und beginnt leise zu schluchzen.
In der Bilanz der Flugabwehr ist später von einem Angriff mit über 300 Drohnen und acht Marschflugkörpern zu lesen. Fünf Einschläge von Raketen und 21 von Drohnen vor allem in Kiew. Mehrere Häuser sind teils komplett zerstört, und es gibt mindestens 31 Tote und über 150 Verletzte zu beklagen. ANDREAS STEIN