Sie würde es wieder so machen. Eines der Merkel-Selfies mit Flüchtlingen: Hier am 9. September 2015 in Berlin-Spandau. © Bernd Von Jutrczenka/dpa
München – Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass sich Angela Merkel halbwegs kritischen Nachfragen stellt. ARD am Montagabend. „Merkels Erbe – 10 Jahre ,Wir schaffen das!‘“ heißt die Dokumentation von Ingo Zamperoni. Und die Altkanzlerin empfängt in ihrem Büro zum Interview. Die zentrale Frage: Haben wir es geschafft? „Bis jetzt haben wir viel geschafft“, lautet die Antwort. „Und was noch zu tun ist, muss weiter getan werden.“ Aber würde sie wieder so entscheiden wie im Krisenherbst 2015? Selbstverständlich! Daran habe sie „keine Zweifel“.
Es ist nicht das erste Mal, dass Merkel in den letzten Monaten über dieses Thema spricht. Aber selten wird sie richtig kritisch konfrontiert. Neulich saß sie bei Tee und Baklava-Gebäck in einem syrischen Restaurant in Berlin, plauderte mit fünf Flüchtlingen – reflektierte, bestens integrierte, gut Deutsch sprechende Neubürger. Auch die durften diese Frage stellen, die vielen sofort in den Sinn kommt: Würden Sie noch mal „Wir schaffen das“ sagen? Aber ja doch, sagte sie auch da.
Das Treffen mit den Flüchtlingen, eine wohlwollende Inszenierung für ein Format des WDR, passt perfekt in Angela Merkels Umgang mit 2015. Sie weiß, dass im Land viele ganz anders denken über ihre Flüchtlingspolitik, bis tief in die überzeugt demokratische Mitte hinein. Aber sie begründet nur ihre Entscheidung. Nie nutzt sie ihre Auftritte dazu, sich kritischen Debatten zu stellen. Mitmalen am eigenen Bild in den Geschichtsbüchern.
Als Altkanzlerin ohne formale Verpflichtung kann sich die heute 71-Jährige ihre Termine aussuchen, niemand kann sie zu irgendeinem Auftritt zwingen. Also sucht sie sich angenehme, nicht zu konfrontative Formate. Fragesteller, die sie kennt, etwa bestimmte Hauptstadtjournalisten, demnächst Ende September wieder mit einem „Spiegel“-Reporter in einem Berliner Theater, Sitzplätze für 50 Euro. Räume eben, die abgeschlossen sind, kein Laufpublikum auf Marktplätzen. Beim Evangelischen Kirchentag im Mai in Hannover sprach sie unter viel Beifall von sich aus ihren Satz an. „Ich habe damals nicht gesagt: ,Ich schaffe das‘“, betonte sie. Um das Wir sei es gegangen. „Lassen wir uns das nicht nehmen.“
Den Satz wiederholt sie in der ARD-Doku quasi wortgleich. Ingo Zamperoni fragt freundlich-kritisch, aber nicht konfrontativ. Trotzdem ist ihm eine sehenswerte, weil ausgewogene Bilanz gelungen, ohne Schlagseite. Die Kölner Silvesternacht und terroristische Anschläge wie in Solingen werden aufgearbeitet, die Frage nach der Kriminalität von Zuwanderern gestellt. Gleichzeitig fragt er vorbildlich Integrierte, wie sie mit den Vorurteilen der Deutschen umgehen, und geht rechtsextremen Anschlägen nach. So entsteht ein Bild von Deutschland 2025, das durch die Migration verändert wurde.
Beim Erklären ihrer Flüchtlingspolitik geht es für Merkel historisch um viel. Es sind ja auch die meisten ihrer anderen großen Entscheidungen umstritten: Hat sie Putin unterschätzt? Deutschland in die Gasabhängigkeit getrieben? War die Abschaffung der Wehrpflicht falsch? Hat sie einen Riesenfehler beim Ausstieg aus der Kernenergie begangen? Ist die Infrastruktur in 16 Jahren Regentschaft verkommen? Machten ihre Fehler erst den Aufstieg der AfD möglich?
„Merkel ist die Geburtshelferin der AfD. Das wollte sie nicht, aber das gehört zu ihrem Erbe“, sagt der Journalist Robin Alexander in der Doku. Danach gefragt, weicht Merkel ein wenig aus. Die AfD sei im Zusammenhang mit der Eurokrise entstanden. „Natürlich hat die Entscheidung von mir (…) polarisiert, hat Menschen dazu gebracht, sich der AfD anzuschließen“, sagt die Altkanzlerin. „Dadurch ist die AfD sicherlich auch stärker geworden.“ Aber sie fragt: „Ist das ein Grund für mich, eine Entscheidung, die ich für wichtig halte, für richtig halte (…) nicht zu treffen?“ Es habe umgekehrt viele Menschen gegeben, die „nicht wollten, dass wir unsere Werte verraten“.
Stimmt. Bis heute. Auch wenn viele dieser Menschen eher Grün als Schwarz wählen. Das führt dazu, dass ihre Unions-Parteifreunde unterschiedlich mit dem Erbe der CDU-Politikerin umgehen. Der heutige Kanzler Friedrich Merz und Merkel können bestenfalls höflich-distanziert miteinander umgehen. Zumindest solange Kameras laufen. Tatsächlich sind sie sich in tiefer, auch ideologischer Abneigung verbunden. Teil zwei gilt auch für ihren früheren Innenminister Horst Seehofer. CSU-Chef Markus Söder hingegen suchte und betrieb die Aussöhnung; noch zu ihrer Amtszeit mit einer Einladung der Kanzlerin zur Bootsfahrt über den Chiemsee, dann 2023 mit der Verleihung des Bayerischen Verdienstordens.
Das hat Söder viel Kritik eingebracht, vielleicht würde er es heute angesichts der gedrehten Stimmung auch nicht wiederholen. Doch bei jenem Festakt gelang es Söder mit einer launigen Rede, die eigentlich tiefen Gräben zur Altkanzlerin vergessen zu lassen. Er erwähnte alle kritischen Punkte, auch den fundamentalen Dissens in der Migrationspolitik „bis heute“ – aber fand Lobenswertes, etwa in Merkels Einsatz in der Finanz-, in der Euro- und in der Corona-Krise. „Du hast Nerven wie Drahtseile“, sagte er. Selten habe sich der Konflikt gelohnt, erst recht nicht in langen Nachtsitzungen. „Du hast Dein Gegenüber totgesessen.“
Man kann sagen: Heute versucht Merkel, die Kritik an „Wir schaffen das“ totzusitzen.