ZEHN JAHRE „WIR SCHAFFEN DAS“

Mein Neuanfang in Bayern

von Redaktion

Nasar Hamdard flüchtete als 16-Jähriger aus Afghanistan nach Deutschland

Er hat Bayern lieben gelernt: Nasar Hamdard ist am 12. September 2015 in München angekommen. Heute lebt er in Hausham und arbeitet als Pflegefachkraft. © THOMAS PLETTENBERG

Hausham – Nasar Hamdard spart Geld. Er möchte für seine Mutter eine goldene Kette kaufen. Denn sie hat vor gut zehn Jahren ihre Lieblingskette verkauft – um ihrem ältesten Sohn eine Zukunft zu schenken. Damals war er 16, lebte mit seiner Familie in Lugar, einer Stadt im Osten Afghanistans. In seiner Heimat kämpften die Taliban gegen afghanische Streitkräfte, es wurde immer gefährlicher. Seine vier Brüder waren noch klein. Aber für ihn wollten seine Eltern eine Chance. Deshalb gaben sie ihre ganzen Ersparnisse einem Schleuser. 9000 Dollar holte er bei ihnen zu Hause hab. Kurz darauf saß Nasar Hamdard in einem Bus nach Kabul. Von dort ging es weiter – durch den Iran, die Türkei, über die Balkan-Route bis nach Europa. Manchmal im Zug, manchmal im Bus, oft zu Fuß. In Bulgarien war er nach drei Tagen Fußmarsch so geschwächt, dass er seine Reisetasche verlor. „Ich hatte nur noch die Kleidung, die ich getragen habe“, erzählt er. Und seine Angst. Vor der Ankunft in der Fremde. Oder davor, die gefährliche Flucht nicht zu überleben.

Nasar Hamdard hat überlebt. Nach zwei Monaten erreichte er München in einem Bus. Es war der 12. September 2015. Ein paar Meter weiter, am Hauptbahnhof, herrschte seit Tagen Ausnahmezustand, tausende Geflüchtete kamen dort an, nachdem die Kanzlerin zugesagt hatte, sie aufzunehmen. Nasar Hamdard hatte davon nichts mitbekommen. „Deutschland war nie mein Ziel“, sagt er. Aber nach Europa wollte er es schaffen – egal, in welches Land. Weil er gehört hatte, dass man in Europa eine Chance bekommt, wenn man sich anstrengt.

Unterwegs hatte Nasar einen Afghanen in seinem Alter kennengelernt, er hatte einen Bekannten in Hausham im Kreis Miesbach. Die beiden gingen zum Bahnhof, wunderten sich ein bisschen über die vielen Menschen – und stiegen in einen Zug. „Wir waren wie im Blindflug“, erinnert er sich. In Miesbach gingen sie zur nächsten Polizeistation, dort wurden sie registriert – und kurz darauf bei einer älteren Dame untergebracht, die Zimmer für fünf minderjährige Jugendliche zur Verfügung stellte. „Mama Helga“ nannten sie sie – Nasar Hamdard ist ihr heute noch dankbar dafür, dass sie ihm die ersten Wochen in der Fremde so leicht gemacht hat.

Große Unterkünfte und überfüllte Turnhallen sind ihm erspart geblieben. Nach drei Monaten wurde er mit anderen jugendlichen Flüchtlingen im Caritas-Kinderdorf Irschenberg untergebracht. Es war kurz vor Weihnachten. „Ich durfte mir etwas wünschen“, erzählt er. Nasar wünschte sich ein Fußballtrikot – und bekam es. Er konnte es kaum glauben.

Nasar Hamdard hat viel gestaunt in den vergangenen zehn Jahren. Darüber, wie schön Oberbayern ist, wie grün die Berge hier sind. Über so manches bairische Wort, das er sich zu merken versuchte. Darüber, wie gut Schnitzel und Kartoffelsalat schmecken. Aber auch darüber, dass er zwei Jahre lang nicht arbeiten durfte – obwohl er bereits gut Deutsch gelernt hatte und jeden Job angenommen hätte. Er versuchte geduldig zu bleiben, machte Praktika. Im Baumarkt, im Altenheim, dann im Krankenhaus Agatharied. Er merkte, dass er dort genau richtig ist.

Als er 2019 endlich eine Arbeitserlaubnis bekam, begann er die einjährige Ausbildung zum Pflegehelfer. Danach hängte er noch mal drei Jahre dran, um Pflegefachkraft zu werden. Vor Kurzem hat er die Abschlussprüfung bestanden. Morgen fängt er im Krankenhaus an. Eine feste Stelle – darauf hat der 26-Jährige zehn Jahre hingearbeitet.

Nasar Hamdard ist dankbar für die Chance, die Deutschland ihm gegeben hat. Wie hätte er sie nicht nutzen können, wo seine Eltern doch alles in seine Zukunft investiert haben. „Manchmal frage ich mich, wie mein Leben heute aussehen würde, wenn ich in Afghanistan geblieben wäre“, sagt er. Seine Brüder sind mittlerweile erwachsen. Arbeiten dürfen sie unter dem Taliban-Regime nicht. Nasar schickt seiner Familie regelmäßig etwas Geld. Wann er sie wiedersehen wird, weiß er nicht.

Er hat in Hausham eine Wohnung gefunden, die er sich mit einem afghanischen Freund teilt. Er träumt davon, Praxisanleiter im Krankenhaus zu werden. Und bald das Geld für die Kette zusammenzuhaben, die er seiner Mutter schicken möchte.

Jetzt, mit festem Job, kann er den deutschen Pass beantragen. Das möchte er tun. Denn er hat Angst, dass die AfD noch stärker werden könnte und Geflüchtete wie ihn abschiebt. Es ist ihm nur selten passiert, dass er böse Kommentare gehört hat, sagt er. Eine ältere Frau hat ihn einmal als Ausländer beschimpft. Nasar hat nicht verstanden wieso. Hin und wieder passiert es ihm auch im Krankenhaus, dass Patienten Vorurteile haben – obwohl er inzwischen fast akzentfrei Deutsch spricht und seinen Beruf beherrscht. „Ich versuche dann, mir nichts anmerken zu lassen und einfach freundlich zu sein“, sagt er. „Meistens bekomme ich irgendwann Freundlichkeit zurück.“

Nasar Hamdard möchte Deutschland etwas zurückgeben. Er engagiert sich für andere Flüchtlinge, übersetzt für die Ausländerbehörde. Er ist in Bayern angekommen. Aber seine Heimat wird immer Afghanistan bleiben, glaubt er. „Heimat ist da, wo die Familie ist.“KATRIN WOITSCH

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