Vor zehn Jahren nahm sich Barbara Zollner ein Herz. Seitdem unterstützt sie Geflüchtete in Pullach. © Yannick Thedens
Pullach – Der Fronleichnamstag im Jahr 2015. Barbara Zollner sitzt im Gottesdienst. In der Reihe vor ihr vier junge dunkelhäutige Männer. Seit Kurzem sind in der Turnhalle in Pullach im Kreis München 120 Geflüchtete untergebracht. Zollner hatte bisher mit keinem Asylbewerber Kontakt. Aber den ganzen Gottesdienst lang fragt sie sich, was die jungen Männer wohl erlebt haben, bevor sie in Bayern ankamen. Wovor sie geflüchtet sind. Später, vor der Kirche, fasst sie sich ein Herz und fragt die vier, ob sie Englisch sprechen. Sie kommen ins Gespräch, gehen gemeinsam zur Fronleichnamsprozession. Danach verspricht Zollner, sie in der Turnhalle zu besuchen.
Damals ahnt sie noch nicht, wie sehr dieser Tag ihr Leben prägen würde. Zehn Jahre sind vergangen. Mit den vier Eritreern ist sie noch immer in Kontakt. Sie hat ihnen geholfen, Deutsch zu lernen, Schulabschlüsse zu machen, Ausbildungsplätze oder Arbeitsstellen zu finden. Sie hat sie zum Arzt gefahren, als es ihnen schlecht ging. Hat zugehört und nach und nach erfahren, was die Jungs in den Flüchtlingslagern in Libyen erlebt hatten. Wie sie auf ihrer Flucht übers Mittelmeer fast ertrunken wären. Sie war als einzige weiße Frau auf einer eritreeischen Hochzeit eingeladen. Hat den Männern die Berge gezeigt, ihnen die bayerische Kultur erklärt und ihnen die ersten deutschen Wörter beigebracht. Manchmal hat sie sich geärgert, manchmal war sie frustriert, oft hat sie mit ihnen gelacht.
Barbara Zollner ist inzwischen 71 und Rentnerin. Sie betreut noch immer rund zehn Menschen, die das Schicksal und die deutschen Verteilungsschlüssel nach Pullach verschlagen haben. Seit 2015 hat sie nicht nur viel Zeit investiert, sondern auch Kraft. Oft musste sie kritische Bemerkungen aushalten. Sie hat nicht mitgezählt, wie oft ihr ein Helfersyndrom attestiert oder sie abfällig „Gutmensch“ genannt wurde. „Ich stelle mich solchen Gesprächen“, sagt Zollner. Sie versuche, die Ängste zu verstehen, die viele Menschen haben, seit so viele Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind.
Auch Barbara Zollner war damals besorgt, als sie im September 2015 die Nachrichten vom Münchner Hauptbahnhof sah. Die Züge, mit denen tausende Flüchtlinge ankamen. Als Merkel damals ihr „Wir schaffen das“ sagte, saß Zollner zu Hause in Pullach, wo es schon keine freien Unterkünfte mehr gab, und dachte: „Hoffentlich schaffen wir das.“ Aber sie erinnert sich auch, dass sie damals stolz war auf ihr Land. „Es war eine euphorische Stimmung, die Hilfsbereitschaft war so groß.“
Inzwischen sind viele Helferkreise deutlich kleiner. Es gibt bessere Strukturen, die Helfer haben mehr Erfahrung. Aber auch der Frust ist größer als damals. Zollner hat oft erlebt, wie Geflüchtete eine Abschiebung fürchten mussten, obwohl sie feste Arbeitsstellen hatten. Dann kamen die Arbeitsverbote, die sie keinem ihrer Schützlinge erklären konnte – sie verstand ja selbst nicht, warum die Politik in Bayern die Integration so schwer machte. Heute sagt sie: „Dobrindt kann alle Menschen an der Grenze zurückweisen. Aber die Probleme in den Herkunftsländern bleiben und die Menschen werden weiterhin flüchten.“
Sie hat nie bereut, dass sie damals entschieden hat, sich zu engagieren. „Die schönen Momente überwiegen.“ Gedanklich sei sie in so vielen Ländern gewesen, weil die Menschen aus Afghanistan, Eritrea oder dem Senegal ihr so viel aus ihrer Heimat und ihrer Kultur berichteten. Sie habe immer auf sich aufgepasst, sagt sie. Sich gewappnet für Momente, in denen die Dankbarkeit nicht so groß war wie erwartet. Nicht alle Helfer haben das geschafft. Zollner hofft, dass es auch künftig viele Menschen geben wird, die bei der Integration helfen. Weil sie weiß, wie viel diese Hilfe bewirkt. „Die Frage, ob wir es geschafft haben, kann man noch nicht beantworten“, sagt sie. „Wir sind noch mittendrin.“ Es dauert Jahre, bis Menschen aus fremden Kulturen wirklich hier ankommen und auf eigenen Füßen stehen können, betont sie. „Aber es geht nur, wenn sie bereit dazu sind und wenn sie Unterstützung bekommen.“KATRIN WOITSCH