Die Distanz schrumpft: SPD-Chef Klingbeil lobte den lange geschmähten Altkanzler Schröder jüngst für die Agenda 2010. Das Bild ist von 2017. © Jaspersen/picture alliance
München – An diesem Abend im Mai 2005 geriet alles ins Rutschen. Es sei eine „bittere Wahlniederlage“, sagte der zerknirschte SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück, er trage die „persönliche Verantwortung“. Aus heutiger Sicht scheiterten die Genossen damals in ihrem Stammland NRW zwar mit einem Traumergebnis. Aber trotz der 37,1 Prozent war die Macht nach 39 Jahren futsch, und nicht nur dort: Noch am Abend kündigte Kanzler Gerhard Schröder für den Herbst Neuwahlen an, die, wie man weiß, ebenfalls verloren gingen. Schuld an alldem: die Agenda 2010.
Man darf davon ausgehen, dass sich in der SPD von heute so mancher an jene Tage vor 20 Jahren erinnert. In NRW stehen wieder Wahlen an, wenn auch „nur“ in den Kommunen – vor allem aber ist die Debatte um die Agenda zurück, und zwar mit einer überraschend neuen Tonlage. Schröder habe damals „mutige Reformen“ angepackt, sagte SPD-Chef Lars Klingbeil jüngst in der „Zeit“. Der Altkanzler fand daraufhin ein paar lobende Worte für Klingbeils politischen Mut.
Nach Jahren der innerparteilichen Traumabewältigung, des Abarbeitens, Distanzierens und Schmähens der Hartz-Reformen wirkt das durchaus kurios. In der schwarz-roten Bundesregierung ist man sich aber einig: Das wirtschaftlich erlahmte Land braucht Reformen, die Frage ist nur. Welche? In der Union zumindest wünscht man sich einen Reform-Wumms wie damals. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte der „Bild am Sonntag“ gerade: „So wie Gerhard Schröder die Agenda 2010 gemacht hat, müssen wir jetzt die Agenda 2030 machen. So einfach ist das.“
So einfach? SPD-Chefin Bärbel Bas klingt am Sonntagnachmittag dann doch ein wenig vorsichtiger. „Die Frage ist, was man sich unter einer Agenda 2030 vorstellt“, sagt sie im sonnigen Berlin, bevor sie sich mit Co-Chef Klingbeil zu einer zweitägigen Klausur zurückzieht. Dabei will die Parteispitze auch über ihre Reformvorstellungen beraten. Klingbeil nennt den Leitgedanken: Es brauche Wachstum, aber dabei müsse es gerecht zugehen.
Damit spielt er vor allem auf die Debatte ums Bürgergeld an, die zum Symbolkampf zwischen den Koalitionären geworden ist. Kanzler Friedrich Merz will zehn Prozent der Kosten einsparen, Linnemann fordert gar, Arbeitsverweigerern gar kein Bürgergeld mehr zu zahlen. Bas, die dem Kanzler zuletzt „Bullshit“-Aussagen attestiert hatte, hält auch jetzt (rhetorisch gemäßigt) dagegen: Ja, man wolle jene, die nicht mitwirken, härter rannehmen, sagt sie, verweist aber auch auf ein Verfassungsgerichtsurteil: Das Existenzminimum müsse „immer gewährleistet sein“.
Es ist ein Spagat, den die SPD versucht. Mit dem Bürgergeld wollte die Partei einst die Agenda-Wunden heilen, seither wird sie aber von vielen nicht mehr als Arbeiterpartei, sondern als Partei der Leistungsempfänger wahrgenommen. Bas betont deshalb auch, bei der Klausur wolle man sich wieder „darauf konzentrieren, die Partei der Arbeit zu sein“. Klingbeil verweist auf den Stahlgipfel im Oktober und Gespräche mit der in Bedrängnis gerateten Autoindustrie. Der Kampf für Arbeitsplätze werde „absoluter Schwerpunkt“ der Regierungsarbeit der SPD sein.
Und der Wumms? Wie eine Agenda 2030 aussehen könnte, ist offen: Für die wirklich großen Sozialstaats-Baustellen hat Schwarz-Rot diverse Kommissionen gegründet, die Vorschläge erarbeiten sollen. Es gibt dicke Brocken zu bearbeiten: Die Kosten für das stark reformbedürftige Rentensystem steigen, umso mehr, als die Koalitionäre das Rentenniveau bis 2031 auf 48 Prozent festgelegt haben. Den Krankenkassen droht ein Milliardenloch, wie es mit der Pflegeversicherung weitergeht, ist unklar. CDU-General Linnemann versucht indes, Dampf zu machen. Drei Viertel der Deutschen hätten kein Vertrauen mehr in die Lösungskompetenz des Staates, das gehe mitten ins Mark. „Das zeigt, dass wir mit dem Rücken zur Wand stehen und jetzt liefern müssen.“
Vielleicht könnte ja der Altkanzler Orientierung geben – jedenfalls scheint ein Tauwetter zwischen ihm und der SPD-Spitze eingesetzt zu haben. Wundern muss das nicht. Klingbeil war lange Jahre Schröders Mitarbeiter, kommt wie er aus Niedersachsen, persönlich verstand man sich. Was einen Keil zwischen beide trieb, war Schröders Nähe zu Kreml-Herrscher Wladimir Putin, nicht die Agenda. „Ich schätze ihn“, sagte der Altkanzler jüngst über den SPD-Chef. Er hoffe, dass er das mit den Reformen hinkriege.