WIE ICH ES SEHE

Die Sprache der Steine

von Redaktion

Geschichte wird lebendig, wenn wir die Sprache der Steine verstehen. Dafür hat Victor Henle mit seinem Buch über den Abbau und die Verwendung des Solnhofer Kalksteins ein aktuelles Beispiel vorgelegt („Der Solnhofer Stein“, Kunstverlag Josef Fink).

Vor etwa 150 Millionen Jahren im Erdzeitalter Jura bildeten sich im lagunenartigen Flachmeer südlich von Eichstätt sedimentäre Plattenablagerungen. Der Stein ist reiner Kalk. Er hat eine extreme Dichte, sodass geschliffen keine Körnung erkennbar ist. Das machte ihn besonders im 18. Jahrhundert zum begehrten Fußboden für Kirchen, Residenzen und Schlösser. „Das ist ein schönes, aber teyres Pflaster“, klagte dazu der Abt der Benediktiner-Abtei Ottobeuren. In wechselnden Farben, kunstvoll verlegt in den Vierungen der Kirchen, Bibliotheken und Festsäle, sind Solnhofer Böden noch heute zu bestaunen, überall in Süddeutschland wie in Teilen von Österreich. Auch in der Kunst, als Epitaph und Relief, wurde Solnhofer Stein „zur schönsten Gestalt gebracht“ (Goethe).

Aufgrund seiner großen Porosität kann der Stein Wasser wie ein Schwamm aufnehmen. Diese Eigenschaft bescherte ihm als „Lithographenstein“ im 19. Jahrhundert eine ganz neue Verbreitung und Bedeutung. Alois Senefelder aus München setzte damit 1796 das erste Flachdruckverfahren in Gang. Es beruht auf der Abstoßung von Fett und Wasser. Seine Bewährung fand diese neue Technik durch die Errichtung einer Steindruckerei in Offenbach/Main für den Notenverleger Johann Anton André. Von da aus ging der Siegeszug des Steindrucks um die ganze Welt. Der Abbau der Steine in Solnhofen, Mörnsheim und Langenaltheim nahm einen gewaltigen industriellen Aufschwung. Mit der Künstlerlithographie entstand eine das ganze 19. Jahrhundert bestimmende Kunstform.

Das später aus dem Steindruck entwickelte Offset-Druckverfahren ist noch heute bestimmend in der Druckindustrie als das führende Flachdruckverfahren.

Eine ganz andere Dimension von weltweiter Bedeutung hat bis heute der Solnhofer Plattenkalk als Fundstätte für Fossilien erhalten. Im Zuge des intensiven Abbaus von Lithographensteinen wurden dort schon 1861 die versteinerte Feder des Urvogels (Archaeopteryx) und bald danach ein ganzes Vogelskelett gefunden. Seither kommen bis heute aus den Bruchgebieten von Solnhofen bis Kelheim immer wieder neue Funde von Fossilien von hoher wissenschaftlicher Bedeutung und einzigartiger Vielzahl und Vielfalt.

So schlägt der Solnhofer Kalkstein einen gewaltigen Bogen lebendiger Geschichte. Der beginnt mit dem urgeschichtlichen Vogel, lange vor den Sauriern, der über die Kalkablagerungen des Ur-Meeres geflogen sein mag. Solnhofer Steinböden sind als bleibende, einzigartige Beispiele unserer Kulturgeschichte überall zu besichtigen. Als Lithographensteine schließlich haben die Solnhofer Steinbrüche die größte Revolution des Druckens möglich gemacht. Sie ist – nach Gutenberg – so etwas wie die zweite Erfindung des Druckens.

Die Vorfahren von Victor Henle waren selber Solnhofer Steinbruch-Unternehmer. Der Autor hat in seiner gründlichen Archivarbeit für das neue Buch weit mehr geleistet, als ihnen ein Denkmal zu setzen. Er hat den Steinen eine Sprache gegeben.

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