Es gibt noch viel zu bereden zwischen Bundeskanzler Friedrich Merz (r.) und seinem Vize, dem SPD-Chef Lars Klingbeil. © Ralf Hirschberger/AFP
München – Der Tag, an dem sich Unions- und SPD-Abgeordnete zu späterer Stunde bei einer Grillparty näherkommen wollen, beginnt ungemütlich. Generaldebatte im Bundestag, das ist ein Anlass, die ganz großen Linien zu zeichnen – oder sie zu verreißen. Bevor Friedrich Merz ans Rednerpult darf, ist AfD-Chefin Alice Weidel als Vertreterin der stärksten Oppositionspartei dran. Im Ton ist sie moderat, im Inhalt aggressiv, aber der Bundeskanzler hört kaum hin. Für ihn und die Union geht es vor allem um das Verhältnis zum Koalitionspartner.
Da liegt einiges im Argen. Auch gestern ist immer wieder vom „Herbst der Reformen“ die Rede, in dem die Bundesregierung mit schwungvollen Entscheidungen die Stimmung im Land aufhellen will. Projekte wie die Aktivrente, die ab 2026 Anreize fürs Arbeiten im Ruhestand bieten soll. Merz versucht, einen optimistischen Ton zu setzen und den Bürgern den Nutzen von Veränderungen schmackhaft zu machen: „Wir dürfen uns in unserem Land ruhig mehr zutrauen.“ Wie schwierig es aber ist, gute Vorsätze tatsächlich zu realisieren, zeigt sich immer dann, wenn es um die Zukunft des Sozialstaats geht. Und speziell ums Bürgergeld.
Die Erwartungen an diesen Tag sind enorm. Bei seiner ersten Haushaltsdebatte als Kanzler hat Merz im Juli von Vorbereitungen gesprochen, die „auf Hochtouren“ liefen, damit man im Herbst beim Bürgergeld Entscheidungen treffen könne. Nun ist der Herbst gekommen, doch konkrete Schritte zeichnen sich noch immer keine ab. Bestenfalls Absichtserklärungen.
Es brauche einen neuen Konsens, sagt der Bundeskanzler also, „was Gerechtigkeit in unserer Zeit heißt“. Man wolle Leistungsempfängern das Leben nicht noch schwerer machen, „aber diejenigen, die arbeiten können, sollen auch arbeiten“. Wenn man den Sozialstaat erhalten wolle, müsse man ihn sich auch leisten können und deshalb das Bürgergeld zu einer „Grundsicherung“ umbauen. Das ist die bekannte Unionslinie.
Den Konsens, wie ein gerechter Staat aussehen könnte, scheint es allerdings in der Koalition noch nicht zu geben. Das zeigt sich schon daran, dass sich in den Reihen der SPD bei diesem Thema kaum eine Hand zum Applaus regt. In zentralen Fragen sind die Konfliktlinien unverändert, und mancher Hinweis des Kanzlers wirkt ganz unverhohlen an die Kollegen von der SPD gerichtet: „Reformen müssen eine breite Zustimmung finden, damit sie dauerhaft tragen. So funktioniert Demokratie.“ Das hört man dort nicht gerne, ebenso wenig wie Merz‘ Hinweis, wer arbeite und mit seinen Beiträgen zur Sozialversicherung auch den Schwachen helfe, dürfe nicht den Eindruck haben, „dass er den Missbrauch des Systems finanziert“.
Matthias Miersch, der Fraktionschef der Sozialdemokraten, hat bei den jüngsten Besuchen in seinem Wahlkreis oder beim Wahlkampf in NRW oft zu hören bekommen, man solle in der Koalition endlich handeln und nicht mehr so viel streiten. Er berichtet auch von der gemeinsamen Reise mit seinem Unions-Pendant Jens Spahn in die Ukraine, doch den Eindruck überwältigender Harmonie kann auch er nicht vermitteln. Seine Ankündigung, man stehe zu einem Sozialstaat, „der dem Einzelnen Sicherheit gibt“, und werde diesen verteidigen, klingt wie ein scharfer Gruß an die Union.
Wenn es reformmäßig wirklich so ein heißer Herbst werden soll, dann stellt diese Generaldebatte eher einen Kaltstart dar. Nicht nur beim Bürgergeld sind die Positionen noch weit auseinander, auch bei Steuererhöhungen für Vermögende und Erben – einem erklärten SPD-Anliegen. Miersch sieht da eine „offene Baustelle“ in der Koalition: „Die großen, großen Vermögen müssen sich stärker beteiligen. Auch das gehört zur Gerechtigkeit.“ Merz hingegen sagt, man könne „soziale Versprechen nicht halten, indem wir wenigen – und seien sie noch so vermögend – möglichst viel nehmen“.
Immerhin, der Herbst ist noch lang, es bleibt also etwas Zeit, um Reformen auf den Weg zu bringen. Aber in diesem Punkt stimmt SPD-Mann Miersch dem Kanzler sowieso zu: „Wir brauchen alle Jahreszeiten. Und das noch mindestens drei Jahre.“