Die späte Abrechnung der Kamala Harris

von Redaktion

US-Politikerin kritisiert in neuem Buch „107 Days“ ihren ehemaligen Weggefährten Joe Biden

Harris bei einer Wahlkampfveranstaltung von Biden. © AFP

München/Washington – Gemessen am rapiden Tempo der US-Politik ist der Juli 2024 eine kleine Ewigkeit her, das Wahlkampf-Drama um den gesundheitlich angeschlagenen Präsidenten Joe Biden (82) und seine Vize Kamala Harris (60) bereits halb in Vergessenheit geraten. Doch die US-Demokraten haben noch immer an den Entscheidungen, die zur verlorenen Präsidentschaftswahl gegen Donald Trump (79) führten, zu knabbern – allen voran die gescheiterte Kandidatin Harris.

Ihre gestern erschienenen Wahlkampfmemoiren „107 Days“ beginnen am 21. Juli 2024, dem Tag, an dem sie erfuhr, dass Joe Biden auf seine Kandidatur verzichten würde. Harris verrät, dass sie beim Schauen einer Koch-Show von dem folgenschweren Anruf Bidens überrascht wurde und sich dachte: „Wirklich? Gib mir noch etwas Zeit. Die ganze Welt steht vor einer Veränderung und ich bin hier in Jogginghose“, zitiert die amerikanische Tageszeitung „Los Angeles Times“ aus vorab veröffentlichten Passagen von „107 Days“.

Der Wunsch nach mehr Zeit sollte Harris‘ gesamten Wahlkampf prägen, auch der Titel ihres gemeinsam mit der Autorin Geraldine Brooks verfassten Buches bezieht sich darauf. Lediglich 107 Tage blieben ihr von Bidens Rückzug Ende Juli bis zur Wahl am 5. November 2024. Es war der kürzeste Wahlkampf der modernen US-Geschichte.

Überraschend deutlich kritisiert die sonst eher zurückhaltende Harris laut US-Medien den Grund für ihren Blitz-Wahlkampf: den späten Rückzieher von Joe Biden. Es sei ein Fehler gewesen, den offensichtlich erschöpften Präsidenten nicht früher zum Rückzug zu drängen, analysiert sie. Doch sie und ihre Parteikollegen hätten geglaubt, diese Entscheidung müsse Biden und seiner Frau Jill überlassen werden. „War es Anstand oder Leichtsinn? Rückblickend denke ich, dass es Leichtsinn war“, schreibt Harris. Bidens Beschluss, eine zweite Amtszeit anzustreben, hätte nicht „dem Ego und der Ambition eines Einzelnen“ überlassen werden dürfen.

Harris wirft Biden und seinem Lager zudem vor, sie als Vize-Präsidentin aufs Abstellgleis gesetzt und sie nicht ausreichend gegen Kritik verteidigt zu haben. Mitarbeiter des Präsidenten hätten negative Gerüchte über sie sogar weiter angeheizt. Die 60-Jährige erinnert sich weiterhin, dass Biden sie in einem besonders angespannten Moment ihres Wahlkampfs – kurz vor ihrer Debatte mit Donald Trump – anrief und ihr zwar kurz Glück wünschte, dann jedoch Vorwürfe erhob, dass Harris ihn bei Spendern schlechtrede. „Ich konnte einfach nicht verstehen, warum er mich gerade jetzt anrief und alles auf sich bezog“, klagt Harris.

Auch mit ihrem Nachfolger, dem US-Vizepräsidenten JD Vance, rechnet die Politikerin ab. Er sei ein „Gestaltwandler“ und ein „schmieriger Typ“.

Viel Raum für Zukunftsaussichten bleibt in diesem bitteren Rückblick nicht. Laut US-Rundfunksyndikat NPR liefert Harris lediglich auf den letzten Seiten einen vagen Vorschlag, wie sich die ohnmächtig wirkenden Demokraten aufrappeln könnten: „Wir müssen unseren eigenen Entwurf entwickeln, der unsere alternative Vision für das Land darlegt.“SOPHIA BELLIVEAU

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