Es war ein Spektakel wie von Leni Riefenstahl: Die gigantische Mischung aus Gedenkfeier für den ermordeten Charlie Kirk und politischer Kundgebung diente im Kern der Bildung eines Mythos. Ohne Wenn und Aber: die bedingungslose Verurteilung ist die einzig moralisch vertretbare und politisch verantwortungsvolle Reaktion auf die Ermordung des konservativen Aktivisten am 10. September.
Gewalt, die zu politischen Zwecken eingesetzt wird, ist mit demokratischen Prinzipien grundsätzlich unvereinbar. Wer auf der politischen Linken mit Schadenfreude reagierte – etwa indem behauptet wurde, Kirk habe „es verdient“ –, verletzt nicht nur grundlegende menschliche Anständigkeit, sondern untergräbt auch jene Bürgerkultur, die die eigene Freiheit schützt. Moralische Klarheit darf jedoch nicht mit intellektuellem Schweigen verwechselt werden. Es bleibt die Aufgabe von Journalisten und Wissenschaftlern, die Erzählung kritisch zu hinterfragen, die sich derzeit um Kirks Vermächtnis bildet – eine Erzählung, die seit seinem Tod zunehmend Züge eines Heiligen-Kults annimmt.
Kirk wird als Verteidiger der Meinungsfreiheit stilisiert. Aber stimmt das? Als Universitätsprofessor, der sich der Wahrheitsfindung durch intellektuellen Austausch verschrieben hat, muss ich diese Frage klar verneinen. Ein Beispiel: Als Kirk Studierende dazu aufrief, Professoren zu melden, die sie als „woke“ oder radikal empfanden – was zur Erstellung einer Online-„Beobachtungsliste“ mit hunderten von Hochschullehrern führte –, förderte er nicht den zivilen Diskurs, sondern säte Misstrauen und Angst. Und diese Angst war nicht unbegründet. Die auf der Liste genannten Professoren waren regelmäßig Anfeindungen, Hassnachrichten und auch Vergewaltigungs- und Morddrohungen ausgesetzt. Seit Kirks Ermordung haben sich diese Kampagnen noch verschärft. Bei der Kirk-Gedenkfeier wurde noch etwas anderes deutlich: die nahtlose Verflechtung von Politik und Religion.
Für Kirks Anhänger war das nichts Neues. Obwohl er sich noch 2018 für eine Trennung von Politik und Religion aussprach, vollzog er später eine radikale Kehrtwende. 2022 erklärte er vor einem Kirchenpublikum, er bedaure es, die Kirchen nicht früher politisch eingebunden zu haben. Im selben Jahr gründete er Turning Point Faith, einen Zweig seiner Organisation, der sich der Wiederherstellung angeblich „grundlegender christlicher Werte“ in Amerika widmet.
Wozu dieses politische Christentum führen kann, wurde in einer Rede seiner Witwe Erika Kirk deutlich: „Der spirituelle Kampf – ich weiß, dass ihr ihn spürt. Er sitzt so tief in der Seele. Man kann einen Raum betreten und den Feind spüren.“ Den Feind? Um es klar zu sagen: Man kann überzeugter Christ und zugleich stolzer Amerikaner sein. Doch christlicher Nationalismus – die Verschmelzung evangelikaler Identität mit politischer Ideologie – ist ein toxischer Cocktail. Verwurzelt in einer verzerrten historischen Erzählung und oft einer fraglichen Auslegung des Evangeliums, marginalisiert er die pluralistische, multireligiöse Realität Amerikas und leugnet die tiefen Wurzeln anderer Glaubenstraditionen in der US-Geschichte. Was geschieht, wenn politische Führer eine selektive Geschichtsauslegung, ein rassistisch exklusives Verständnis nationaler Identität und die Symbolik des Christentums miteinander verschmelzen? Es entsteht etwas, das weniger an Amerika erinnert als an Putins Russland – ein autoritäres Regime, in dem sowohl Kirche als auch Staat einer nationalistischen Mythologie dienen.
In solchen Systemen stirbt der rationale politische Diskurs. Er wird ersetzt durch emotionale Appelle an göttliche Vorsehung, nationalen Stolz und einen moralischen Kreuzzug – oft verbunden mit der Forderung, dass junge Menschen im Namen Gottes und des Vaterlandes zu Märtyrern werden.
Der Autor: Der in München lebende US-Amerikaner ist Politik-Professor und lehrt an der Universität St. Gallen.