Ein Herbst ohne Reformen

von Redaktion

Ringen um Reformen: Die Fraktionsvorsitzenden Matthias Miersch (SPD, v.li.), Jens Spahn (CDU) und Alexander Hoffmann (CSU). © Heiko Becker/dpa

München/Berlin – Vielleicht sollte sich Jens Spahn gerade lieber von Kindergärten fernhalten. Denn in vielen Kitas landauf, landab stimmt der Nachwuchs dieser Tage mit Inbrunst das schöne Lied an: „Der Herbst, der Herbst, der Herbst ist da“. Auch meteorologisch (1. September) und kalendarisch (22. September) sind die Voraussetzungen für diese Aussage erfüllt. Die politischen Veränderungen hingegen, die die Union als „Herbst der Reformen“ angekündigt hat, wirken noch weit entfernt. Gesundheit, Pflege, Rente, Steuern, Bundeswehr – wirklich Konkretes fehlt. Und Spahn mag plötzlich gar nicht mehr über den Herbst reden.

Der Unionsfraktionschef hat, so ist zu hören, seinen Abgeordneten eindringlich geraten, die Erwartungen nach unten zu korrigieren – und die Formulierung „Herbst der Reformen“ öffentlich nicht mehr zu verwenden. Die Kommissionen, die Reformen etwa bei Gesundheit oder Rente erarbeiten sollen, haben ja gerade erst die Arbeit aufgenommen.

Zur Erinnerung: Vor wenigen Wochen klang das noch ganz anders. Bundeskanzler Friedrich Merz kündigte explizit „Entscheidungen im Herbst“ bei Rente, Gesundheit und Pflege an. Das gilt nun nicht mehr. In der Union heißt es, vor allem die Angst vor riesigem Erwartungsdruck und „Die liefern nicht“-Schlagzeilen habe Spahn dazu gedrängt, den Begriff vom Reformherbst einzukassieren. „Wir brauchen mehr Zeit“, sagt ein führender Abgeordneter, das reiche bis tief in 2026, vielleicht 2027 hinein. Selbst beim Bürgergeld, der prominentesten Reformbaustelle, müsse man wohl bis ins Strafrecht eingreifen und benötige auch den Bundesrat.

Andere in der Unionsfraktion glauben zudem, der Druck müsse vielleicht noch weiter steigen, bevor auch in der gesamten SPD-Fraktion genug Bereitschaft da ist, Grundlegendes zu verändern. Das Bürgergeld haben die Sozialdemokraten schließlich selbst erfunden, zudem leiden sie in den eigenen Augen bis heute unter den Nachwirkungen der Agenda 2010 von SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Parteichef Lars Klingbeil und auch Fraktionschef Matthias Miersch werden als rationale Typen eingeschätzt, die eigentlich wüssten, wie dringend tiefgehende Reformen nötig seien – für die in Flügeln organisierte SPD als Gesamtheit gilt das noch nicht. Wenn die Koalition die Kurve letztlich noch rechtzeitig kriege, sei es auch nicht mehr ganz so wichtig, ob das in einem Herbst oder einem Frühling der Reformen geschehen sei, heißt es aus der Union.

Erst beim Bürgergeld sichtbar anpacken inklusive Missbrauchs-Bekämpfung und Kürzen der Leistungen für Ukrainer – das ist auch für CSU-Chef Markus Söder die Priorität. Er warnte auffällig laut in den vergangenen Tagen davor, sich sofort auf Großreformen bei Gesundheit und Rente zu stürzen. Von zu viel Reform-Ankündigung verunsicherte Bürger landen am Ende bei der AfD, mahnt Söder explizit.

Doch gerade einige Vertreter des einflussreichen CDU-Wirtschaftsflügels machen Druck. Sie haben Verbündete in der Fraktion, ihnen geht es zu langsam angesichts der Krise im Land. Auch der Sprecher der Ost-Ministerpräsidenten, Thüringens CDU-Regierungschef Mario Voigt, fordert „mehr Tempo“. Dass der Kanzler die Bürgergeld-Reform jüngst zur Chefsache erklärt hat, wird auch als Versuch gesehen, hier die Wogen etwas zu glätten.

Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) selbst mahnte die Koalition gestern im Bundestag zu einer sachlichen Reform-Debatte. Sie sei sich bewusst, dass der Missbrauch im Bürgergeld mittlerweile „ein Symbolthema“ dafür geworden ist, „ob dieser Staat noch funktioniert“, sagte Bas. Es dürften aber „keine Legenden“ gebildet werden, was das Ausmaß angehe. „Die Menschen, die mitmachen, die wollen wir unterstützen. Die, die nicht mitmachen, die nicht wollen, die müssen das auch merken.“

Bas plant offenbar, die große Reform aufzuspalten. Teil 1 mit den Sanktionen soll so gefasst werden, dass der Bundesrat nicht mitreden muss, Teil 2 wird dann auf nächstes Jahr verschoben. Doch auch für den ersten Teil gibt es noch keinen Termin. Winteranfang ist übrigens am 21. Dezember.

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