Radikal neu: FDP-Chef Christian Dürr will seine Partei auf Kurs bringen. © Von Jutrczenka/dpa
München – Berlin ist nicht mehr das Zentrum. Seit fünf Monaten nicht mehr. Zumindest nicht für Christian Dürr. Wenn der FDP-Chef jetzt zur Arbeit geht, ist das in ganz Deutschland – mal in Niedersachsen, mal in Stuttgart, mal in München. Ein bis zwei Tage die Woche verbringt der FDP-Politiker noch in der Berliner Bundesgeschäftsstelle.
Das mag daran liegen, dass für alle Liberalen der Bundestag kein Arbeitsplatz mehr ist. Es ist aber auch eine ganz bewusste Strategie. Denn die FDP befindet sich gerade in einer Selbstfindungsphase. Es geht um die großen Fragen. Wofür steht die Partei noch, wie erreicht sie wieder die Wähler? Und dafür will Dürr vor Ort sein, mit Menschen sprechen, Probleme erleben.
Nach dem 4,3-Prozent-Schock Ende Februar musste sich die Partei erst einmal sortieren, neu aufstellen – weg vom jahrelangen Ein-Personen-Kult. Der Fraktionschef Dürr beerbte Christian Lindner als Parteichef, die unbekannte Tech-Unternehmerin Nicole Büttner wurde neue Generalsekretärin. Im August präsentierte die FDP dann ihre Wahlanalyse. Sie attestierte sich selbst einen Vertrauensverlust der Wähler. Bürgerfern und ohne Alleinstellungsmerkmal in der Wahrnehmung. „Unsere Wahlaufarbeitung musste so schonungslos sein“, sagt Dürr, „andere Parteien werden das noch vor sich haben. Denn die vermeintliche Stabilität der beiden Regierungsparteien trügt.“
Dürr hat es sich als FDP-Chef zur Aufgabe gemacht, eine klaffende Lücke in der Parteienlandschaft zu füllen. „Ich möchte aus der Mitte heraus radikale Reformen vorschlagen“, kündigt er an. „Die Menschen spüren, dass sich etwas ändern muss, und sind den Stillstand im Land leid.“ Dafür versucht die Parteispitze – gerade in den Sozialen Medien –, den Begriff „radikale Mitte“ als Art gelben Schlachtruf zu bewerben.
Wie radikal die Reformen dann tatsächlich aussehen, lotet die Partei gerade selbst noch aus. Die Ideenpalette reicht von kleineren Projekten wie 24-Stunden-Baustellen bei Infrastrukturprojekten und Urlaubstage künftig gegen Geld abgeben zu können, bis hin zu großen Renten-Vorhaben. „Den Menschen ist klar, dass man nicht einfach behaupten kann: ,Die Rente ist sicher‘“, sagt Dürr. „Dafür muss man auch strukturell, reformorientiert etwas tun, wie wir es mit der Aktienrente vorschlagen.“
Letzteres ist keine brandneue Idee der FDP. Schon in der Ampel-Zeit versuchte die Partei, das Konzept, das grob gesagt mit Aktiengewinnen das Rentenniveau stabilisieren will, an den Bürger zu bringen.
Neu denkt die FDP dagegen beim Bürgergeld und bringt eine Grundsicherung auf Kredit ins Spiel – ähnlich wie bei der Ausbildungsförderung Bafög. „Es braucht das Signal, dass es kein bedingungsloses Einkommen ist, sondern eine Notfallunterstützung“, sagt Dürr.
Außerdem fordert die Partei, die Zuschüsse beim Wohngeld und die Unterkunftskosten in den Blick zu nehmen. Laut der Agentur für Arbeit übernimmt das Jobcenter nämlich für Bürgergeldempfänger die Kosten für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe. Dürr schlägt vor, diese Kosten pauschal zu erstatten, sodass Menschen in der Grundsicherung womöglich auch aus großen Wohnungen umziehen müssen. „Ich bin nicht naiv und weiß, dass das alles Diskussionen auslöst“, weiß Dürr. „Aber nur dazustehen und nichts zu machen, führt dauerhaft zu massiven Problemen in unserer Gesellschaft.“
Die Liberalen haben dem Stillstand im Außen wie im Innern den Kampf angesagt. Getrieben werden sie dabei vor allem von einem Termin: der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 8. März. Es würde die FDP mehr als nur schmerzen, auch in diesem Stammwählerland, in dem jedes Jahr beim Dreikönigstreffen der liberale Spirit beschworen wird, in die außerparlamentarische Opposition zu rutschen. Beim letzten Wahltrend im Mai lag die FDP dort bei heiklen 5,1 Prozent. Die bundesweiten drei bis vier Prozent versprechen da keine Schubwirkung. Die große Sehnsucht nach der FDP scheint es also nicht zu geben.
Dieses Datum ist also auch eine Feuerprobe für Dürr. Mit seinem Vorgänger Christian Lindner spricht er zwar manchmal. „Aber er ist kein ehemaliger Parteivorsitzender, der anruft und einem erzählen will, wie es richtig geht.“