KOMMENTAR

Erst die Armen, dann die Institution

von Redaktion

Nicht wenige mögen enttäuscht sein, dass Papst Leo XIV. auch fünf Monate nach seiner Wahl am 8. Mai noch immer ein Geheimnis um seine kirchenpolitischen Visionen und Pläne macht. In seinem ersten Apostolischen Schreiben, das gestern im Vatikan veröffentlicht worden ist, befasst sich das Kirchenoberhaupt einzig mit dem Einsatz für Arme und Schwache.

Die Geduld derjenigen, die sich dringend Reformen in der Kirche wünschen und sich Sorgen um die Zukunft der Institution machen, wird auf eine harte Probe gestellt. Schließlich gibt es vor allem in Westeuropa seit Jahren und Jahrzehnten wachsende Spannungen innerhalb der katholischen Kirche zwischen denen, die Veränderungen herbeisehnen (vor allem viele Frauen), und denen, die nichts mehr als das fürchten. Noch ruhen einige Hoffnungen auf dem Projekt der Synodalität, das Papst Leo zumindest weiterführen will.

Nun also das erste offizielle Schreiben – und kein Wort zum inneren Zustand der Institution? Es kann gute Gründe geben, dass der neue Papst nicht als Erstes eine öffentliche Nabelschau betreiben will. Dass er zunächst den Blick auf diejenigen lenkt, die der Hilfe der Kirche bedürfen. Mehr noch: Die Sorge um die Armen, Hungernden und Schwachen ist „wesentlicher Bestandteil des ununterbrochenen Weges der Kirche“, sozusagen das Grundgerüst des christlichen Glaubens.

So gesehen ist die Thematik der ersten größeren schriftlichen Äußerungen des Kirchenoberhaupts nachvollziehbar. Angesichts der Lage der Welt, der vielen Sorgen um hungernde und unterdrückte Menschen, gebührt dieser Not die erste Aufmerksamkeit. Andernfalls hätte sich der Vatikan der Kritik ausgesetzt, dass dem Papst die Beschäftigung mit inneren Angelegenheiten wichtiger sei als die Sorge um notleidende Menschen.

Die Wertigkeit der Themen ist damit gesetzt. Viel Zeit sollte der Papst aber nun nicht mehr verstreichen lassen, um die programmatischen Fragen der Institution ernsthaft in den Blick zu nehmen. Schließlich braucht die Kirche die Männer und Frauen in den Diözesen und Pfarrgemeinden vor Ort, die das Gebot der Nächstenliebe umsetzen. Davon in Westeuropa noch mehr zu verlieren, wäre verhängnisvoll. Der Auftrag der Kirche ist wichtiger denn je.

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