KOMMENTARE

Die große Lust am Missverstehen

von Redaktion

Merz und das „Stadtbild“

Wie so häufig, lohnt es sich, Cem Özdemir zuzuhören, einem der klügsten Realos der Grünen. „Viele Menschen scheuen öffentliche Verkehrsmittel nachts, Frauen haben spätabends Angst, in Bahnhöfe zu gehen. Das sind einfach unerträgliche Zustände, damit haben wir uns zu beschäftigen. Wenn wir es nicht machen, dann ist es quasi ein Wahlaufruf, AfD zu wählen.“ Statt sich reflexartig aufs Wildeste zu empören, ist genau das Özdemirs Beitrag zur Debatte übers „Stadtbild“. Ergänzt durch seinen ebenfalls klugen Rat, sensibel statt pauschalisierend darüber zu reden.

Womit wir bei Friedrich Merz wären. Der Kanzler hat nämlich nichts Falsches und nicht zu viel gesagt unter dem Schlagwort „Stadtbild“ – sondern zu wenig. Seine Kritik ist genau dann treffend, wenn er sie konkretisiert. Es geht um beschäftigungslose Männergruppen auf den Marktplätzen selbst in kleinen Orten, es geht um Pöbeleien und Übergriffe im Nahverkehr, es geht um Bettelbanden vor allem aus Osteuropa. Worum es nicht geht, ist ein abstraktes „Stadtbild“ im Sinne eines angeblich zu hohen Ausländeranteils.

Die meisten Menschen im Land verstehen Merz sehr genau. Sie erleben das nämlich in ihrem Alltag. Sie wünschen sich, dass die Politik dieses Problem erkennt, benennt und verkleinert. Was ja nicht allein mit Abschiebe-Reflexen geht, sondern auch mit guter Integration, aktivierender Sozialpolitik, kluger Arbeitsmarkt- und strenger Innenpolitik.

Merz‘ Andeutungen lassen leider Raum für ein dämliches Spielchen der Bundespolitik: das Sich-bewusst-Missverstehen. Özdemir hat viele Parteifreunde, die das perfektioniert haben, am besten gleich die große Rassismus-Keule. Auch viele Medien machen lustvoll mit, bis hin zu Umfragen unter ausländischen Elite-Studenten, ob sie sich von Merz fremdenfeindlich beleidigt fühlen. Und in Berlin findet sich auch immer irgendeine Demo, die empört mit Schildchen winkt.

Das vorsätzliche Falschverstehen, Übertreiben, Überempören führt verlässlich zu schnellen Schlagzeilen. Aber mittelfristig dazu, dass sich die Wähler von den demokratischen Parteien abwenden, weil sie fühlen: Die nehmen uns gar nicht ernst. Je wilder sich die politische Mitte um sich selbst dreht, desto größer werden die Zentrifugalkräfte. Özdemir hat das verstanden.CHRISTIAN.DEUTSCHLAENDER@OVB.NET

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