„Es gibt sie, die Angsträume“

von Redaktion

Unter dem Motto „Wir sind das Stadtbild“ gingen viele Menschen auf die Straße – wie hier in Hamburg. Die Teilnahme der SPD-Fraktionsvize sorgt für Debatten. © Scholz/dpa

München – Wiebke Esdar ist bislang noch nicht für die ganz großen Schlagzeilen in der SPD zuständig gewesen. Aber die 41-jährige Bielefelderin gehört immerhin zur kleiner werdenden Gruppe sozialdemokratischer Abgeordneter, die verlässlich ihr Direktmandat holen. Seit Februar 2022 ist sie eine der drei gleichberechtigten Sprecher der Parlamentarischen Linken. Und seit Freitag auch Thema in der Koalition.

An diesem Tag nahm Esdar, die auch Fraktionsvize ist, nämlich in Bielefeld an einer Demo teil. Gegen Bundeskanzler Friedrich Merz. In der Union stößt das auf große Verärgerung. „Opposition in der Regierung – das hat noch nie funktioniert“, sagt Fraktionschef Jens Spahn. Und Fraktionsgeschäftsführer Steffen Bilger findet: „Wer als SPD-Führungskraft gegen den Bundeskanzler der gemeinsamen Koalition demonstriert, trägt leichtfertig dazu bei, dass die Menschen uns weniger zutrauen, gut zu regieren.“

Seit Tagen gehen Menschen gegen die Äußerungen von Merz zu Migration und dem „Stadtbild“ auf die Straße. So auch am Freitag in Bielefeld. „Ich nehme mein Demonstrationsrecht wahr – wie es zum Glück in Deutschland jedem zusteht“, verteidigte sich Esdar in der örtlichen Zeitung. Der Streit über sie belegt aber, wie unglücklich einige vom linken SPD-Flügel mit der eigenen Regierungspolitik sind.

Der SPD-Abgeordnete Adis Ahmetovic hat deshalb mit neun weiteren Abgeordneten einen Acht-Punkte-Plan zur „Stadtbild“-Debatte verfasst und fordert einen Gipfel im Kanzleramt. „Ich erwarte, dass der Kanzler Vertreter von Großstädten, kommunalen Verbänden und den Fraktionen zu einem Stadtbild-Gipfel an einen Tisch holt, wie beim Stahl- oder Automobil-Gipfel“, sagt Ahmetovic. Der Hannoveraner sieht das Problem, findet aber die Tonlage falsch: „Die Debatte auf Asyl, Flucht und Migration zu verengen, hilft der Lösungsfindung nicht.“ Im Mittelpunkt stünden vielmehr soziale Probleme: „Wo Armut wächst, wo Wohnraum fehlt und wo soziale Angebote verschwinden, entstehen Spannungen – ganz gleich, wo jemand herkommt.“ Während die Union von so einem Gipfel gar nichts hält, unterstützt SPD-Fraktionsgeschäftsführer Dirk Wiese das Anliegen. Man brauche ein „schlüssiges Konzept. Daran sollten wir arbeiten.“

Vorschläge gibt es viele. „Die Sicherheit an und in Bahnhöfen ist ein nicht zu unterschätzendes Problem“, sagt der Präsident des Deutschen Landkreistages, Achim Brötel. „Hier gibt uns die Bevölkerung einen klaren Auftrag zum Handeln.“ Polizeipräsenz sei „für das Sicherheitsgefühl vieler Menschen von ganz zentraler Bedeutung“.

Unterstützung kommt ausgerechnet von Grünen-Chef Felix Banaszak. Es müsse anerkannt werden, dass Merz mit seinen Äußerungen zu den Folgen von Migration „eine breit getragene Wahrnehmung anspricht, mit der sich progressive Kräfte beschäftigen müssen“, schrieb Banaszak in einem Beitrag. „Es gibt sie, die Angsträume in unserem Land“, so der Grünen-Chef. „Es gibt die an Kleinstadtbahnhöfen herumlungernden Faschos und sturzbesoffen grölende Fußballfans in Zügen. Und es gibt kriminelle Gruppen auch aus migrantischen Familien, die am Freitagabend Leute abziehen oder Frauen belästigen.“ Auch seine Partei dürfte dies nicht mehr einfach ignorieren. „Progressive Kräfte, die notwendige und berechtigte Kritik an rassistischen Aussagen und Strukturen formulieren, dürfen nicht den Eindruck erwecken, diesen Teil des Lebens auszublenden, denn es gibt ihn.“

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