„Wer sich um den Klimawandel sorgt, ist nicht ,linksgrün versifft‘“, schreibt Ilse Aigner in ihrem Beitrag für unsere Zeitung. Sie plädiert für mehr Toleranz. © THOMAS PLETTENBERG
Immer wieder höre ich, dass man in Deutschland nicht mehr alles sagen dürfe. Eine Behauptung, die bei mir Widerspruch hervorruft, denn allein die Tatsache, dass man bei uns die Meinungsfreiheit öffentlich, laut und ohne Angst vor Restriktionen infrage stellen kann, beweist doch grundsätzlich das Gegenteil. Dennoch gibt es bei nicht wenigen Menschen ein Störgefühl, ein großes Unbehagen. Und das drückt sich auch in aktuellen Zahlen aus – im noch frischen „Demokratie-Report 2025“ des Landtags: Nach dieser repräsentativen Umfrage glauben 32 Prozent aller Menschen in Bayern, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist. Das ist ein erschreckend hoher Wert.
Dieses Empfinden steht in völligem Gegensatz zu dem, was tatsächlich in unserem Land geschieht: Noch nie war es so leicht, hemmungslos seine Meinung kundzutun. Und noch nie so einfach – unter dem Schutz der Anonymität in Sozialen Netzwerken –, Ehrverletzungen, Diskriminierungen, Hassbotschaften, Verleumdungen, Holocaust-Leugnungen oder Aufrufe zu Gewalt zu verbreiten. Wir erlebten in den letzten Wochen auf unseren Straßen den schlimmsten Hass gegen unsere jüdischen Nachbarn und Freunde, sahen uns mit einem islamistischen Mob konfrontiert, der offen die Auslöschung Israels propagierte – flankiert von einem linksideologischen Antisemitismus. Hier wurden oft gesetzliche Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten, es war unerträglich.
Die Meinungsfreiheit ist das Herz unserer Demokratie. Es ist somit kein Zufall, dass Diktaturen und Autokratien zuallererst die Meinungsfreiheit angehen. Im Juni habe ich die Ukraine besucht und dort mit vielen Menschen gesprochen. Die Ukrainer kämpfen nicht nur gegen eine feindliche russische Invasion – sie kämpfen für Meinungsfreiheit, für Demokratie, für ein Leben in Freiheit. In Putins Russland gibt es diese Freiheit nicht. Das Beispiel von Alexei Nawalny zeigt uns, was mit Oppositionellen geschieht: Zuerst ein Giftanschlag, später ein Scheinprozess, danach weggesperrt – um schließlich in Haft einen plötzlichen Herztod zu erleiden.
Das Störgefühl vieler, das ich anfangs erwähnte, hat etwas mit dem zu tun, was man als „Cancel-Culture“ bezeichnet. Also mit jenem Phänomen, bei dem Menschen durch medialen oder gesellschaftlichen Druck öffentlich boykottiert oder ausgegrenzt („gecancelt“) werden, weil sie anderer Meinung sind oder ihnen problematisch empfundene Aussagen oder Handlungen vorgeworfen werden. Ein öffentlicher Pranger, ein kollektiver Druck, der hohe soziale Kosten oder sogar existenzielle Folgen für Betroffene haben kann. Cancel-Culture hat nichts mit konstruktiver Kritik oder Diskurs zu tun, weil sie auf dauerhaften Ausschluss zielt. Sie ist eine ernsthafte Gefahr für die Meinungsfreiheit, weil sie vielen Angst macht, Dinge auszusprechen.
In der vergangenen Woche schlugen in Deutschland die Emotionen hoch – ich meine die Diskussion um die Stadtbild-Äußerung von Bundeskanzler Friedrich Merz. In einem sofortigen Reflex wurde das von ihm Gesagte als rassistisch und rechtsextrem verurteilt. Eine Empörungsmaschine brach los: DAS Thema in Leitartikeln, in den Hauptnachrichten, in den Talkshows. Ein unpräziser Satz reichte aus, um unserem Kanzler Grundböses zu unterstellen.
Doch dann die Überraschung im ZDF-Politbarometer: 63 Prozent der Befragten gaben Friedrich Merz Recht! Ich glaube, es ist ein zunehmendes Problem, wenn sich die mediale Empörungsblase komplett von der Wahrnehmung und der Erfahrung der allermeisten Menschen abweicht, die genau jenes Problem sehr gut kennen, das er gemeint hat. Eine große Mehrheit kommt kaum noch zu Wort – aber sind die Kameras sofort auf jene Gruppen gerichtet, die sich zu Demos gegen „rechts“ organisieren. Am Beispiel der Stadtbild-Diskussion war die mediale Meinungsverzerrung ganz offensichtlich.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss besonders aufpassen, sich nicht von den Menschen zu entfernen. Denn er hat einen ganz besonderen Stellenwert in unserer Medienlandschaft, weil er das Privileg einer öffentlichen Finanzierung genießt und im Gegensatz zu den privaten Medienunternehmen kein Tendenzbetrieb ist. Es ist sein Auftrag, eine möglichst breite Meinungsvielfalt darzustellen. Und eine möglichst breite Themenvielfalt. Ich möchte, aus tiefer Überzeugung, nicht auf ihn und eine ausgewogene journalistische Kompetenz verzichten: Deshalb ist Binnenpluralismus ganz entscheidend für seine Zukunft und Glaubwürdigkeit.
Es ist dringend an der Zeit, verbal abzurüsten und das Empörungslevel zu senken. Wer ein Sicherheitsproblem in unseren Innenstädten anspricht, ist kein Rassist. Wer sich um den Klimawandel sorgt, ist nicht „linksgrün versifft“. Wer gerne ein Schnitzel mag, ist kein Tierquäler. Und wer vegan oder vegetarisch lebt, sollte dies ohne Häme durch andere tun dürfen. Meinetwegen können auch Gender-Sternchen benutzt werden – solange nicht diejenigen „gecancelt“ werden, die sich korrekt an die deutsche Rechtschreibung halten. Ich bin für deutlich mehr Gelassenheit: Mehr „Liberalitas Bavariae“, mehr „leben und leben lassen“ und weniger moralische Überhöhung würde uns allen, würde dem gesellschaftlichen Klima guttun.
Meinungsfreiheit und Debattenkultur – zwei Seiten einer Medaille. Die Meinungsfreiheit ist weit gefasst und endet, wo sie mit Gesetzen kollidiert. Die Debattenkultur sollte wieder den Regeln des Anstands folgen, was ich oft vermisse. Ich werbe für eine harte Auseinandersetzung – aber sie muss fair bleiben. Statt mehr Polarisierung und Anfeindung brauchen wir mehr Versöhnung. Zuhören statt abwinken, argumentieren statt pöbeln. In einem Klima der Feindschaft und der Angst schaukeln sich die Extreme auf, für Maß und Mitte bleibt kein Platz mehr. Das dürfen wir nicht zulassen.