Geliebt und bewundert tanzten die Kessler-Zwillinge durch Nachkriegseuropa. Und so wie sie ihr Publikum über Generationen hinweg bezauberten, berühren sie noch im Tod die Herzen der Menschen. Unerträglich war beiden der Gedanke, ohne die andere weiterleben zu müssen. Und so planten sie ihren Abschied vom Leben sorgfältig; nicht mal die Kündigung ihres Zeitungs-Abos vergaßen Alice und Ellen. So würdig und selbstbestimmt, wie sie ihr Leben führten, gestalteten sie mit Hilfe von Ärzten und eines Vereins auch ihren Tod. Soll man sie dafür verurteilen?
Noch immer hadern manche, vor allem kirchlich gebundene Menschen mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid von 2020, das es erstmals erlaubt, die Hilfe von Ärzten und Sterbehilfevereinen beim Freitod in Anspruch zu nehmen. Vielen anderen aber, die schwerstkrank und hoffnungslos sind, nahm dieses Urteil die Angst vor einem Ende unter Qualen – so wie dem unheilbar an Krebs erkrankten 57-jährigen Münchner, dessen Schicksal wir heute auf Seite 3 schildern. Er war ein Freund von mir, und ich verstehe, dass er sich die schrecklichsten Momente seiner letzten Tage ersparen wollte. Betroffenen wie ihm lässt das Urteil bis zuletzt eine Wahl, und das ist gut so. Um es mit den Worten der Verfassungsrichter zu sagen: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen.“
Über dieses Recht kann auch die Kirche nicht verfügen. Dem Bundestag gab Karlsruhe 2020 auf, die Sterbehilfe gesetzlich neu zu regeln. Doch passiert ist nichts, weshalb assistierte Suizide bis heute in einer rechtlichen Grauzone stattfinden. Oder Menschen sich in den Zug in die Schweiz setzen. Das wäre nicht nötig, wenn der Gesetzgeber endlich seiner Pflicht nachkäme, sorgfältig zu regeln, unter welchen Voraussetzungen Ärzte und Vereine beim Sterben helfen dürfen – und unter welchen nicht. Georg.Anastasiadis@ovb.net