Ein Herz und eine Seele? Nicht ganz. Merz‘ Worte haben Präsident Lula und die Brasilianer spürbar getroffen. © Nietfeld/dpa
München – Angefangen hat es noch ganz harmlos. Jedenfalls hat Friedrich Merz keinen Widerspruch gehört, als er auf einem Kongress in Berlin eine Anekdote von seiner jüngsten Dienstreise erzählte. Bei der Weltklimakonferenz in Brasilien habe er kurz vor dem Abflug in einem Hintergrundgespräch mit Journalisten in die Runde gefragt, wer denn gerne noch bleiben wolle: „Da hat keiner die Hand gehoben.“ Im Gegenteil, alle seien froh gewesen, „dass wir vor allen Dingen von diesem Ort, an dem wir da waren, wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind“.
Von Merz‘ Belém-Besuch selbst ist vor allem in Erinnerung, dass er sehr kurz war. Zwölf Stunden nur weilte er beim Klimagipfel, das Nachspiel hingegen zieht sich nun schon über Tage. Nach dem spöttischen Kommentar am Freitag dauerte es eine Weile, bis die Worte über den Atlantik und bis nach Belém vordrangen. Dort ist die Empörung seitdem umso größer.
Respektlosigkeit, Voreingenommenheit und Arroganz sind noch die harmloseren Vorwürfe, mit denen der Kanzler bedacht wird. Manche Brasilianer werfen ihm kolonialistische Anwandlungen vor, andere monieren, er solle sich als Vertreter des Westens, der massiv zur Erderwärmung beitrage, nicht über die Hitze am Amazonas beklagen. Am drastischsten formuliert der Bürgermeister von Rio de Janeiro seinen Unmut. Er beschimpfte Merz bei X als „Nazi“ und „Hitlers Vagabunden-Sohn“. Kurz darauf löschte er den Beitrag, offenbar auf Druck von oben, und flötete von der Freundschaft beider Länder, doch das Internet vergisst nichts.
Präsident Lula da Silva äußert sich ein bisschen charmanter, aber er braucht die Deutschen auch als Partner, nicht nur beim Kampf ums Klima. Merz hätte in eine Kneipe gehen, lecker essen, tanzen können, dann wäre ihm klar geworden: „Berlin hat nicht mal zehn Prozent der Lebensqualität.“
Dort fallen manche Kommentare ebenfalls harsch aus. „Langsam fragt man sich, ob der Kanzler überhaupt noch irgendwo auftreten kann, ohne Deutschland in Erklärungsnot zu bringen“, sagt Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge. Violetta Bock von den Linken verlangt eine Entschuldigung – was Merz ausschließt. Wie ein Gegengewicht zum Oppositions-Gepolter klingt da die Wahrnehmung von Vizekanzler Lars Klingbeil, der von einem „sehr guten Besuch“ spricht. Merz‘ hemdsärmeliges Auftreten sei halb so wild: „Ich bin immer dafür, dass Politiker auch mal frei reden dürfen.“
Der Kanzler nimmt sich da so einige Freiheiten, er hat eine lange Vorgeschichte ungeschickter Rhetorik. Ob es die „kleinen Paschas“ waren und die vermeintliche Zahnsanierung abgelehnter Asylbewerber, beides Ausrutscher in seiner Zeit als Oppositionsführer, oder die „Stadtbild“-Debatte vor wenigen Wochen – Merz hat ein fatales Talent, sich um Kopf und Kragen zu reden.
Sinnigerweise ist es sein jüngster Fauxpas, der ihm im Regenwald zum Verhängnis wurde. Sein Kommentar, wer von den Journalisten noch in Belém bleiben wolle, war eine Reaktion auf eine Frage zu der unendlichen Stadtbild-Debatte. Solche Hintergrundgespräche sind streng vertraulich. Aber in diesem Fall ist es der Kanzler selbst, der gegen das Gebot zur Diskretion verstößt.
Vor Ort muss Carsten Schneider die Scherben zusammenkehren. In den Sozialen Medien verfasst der SPD-Umweltminister eine wahre Hymne auf das Gastgeberland, seine Menschen, seine Natur. „Schade, dass ich nach der COP nicht länger bleiben kann. Ich hätte ein paar Ideen, zum Beispiel mit meinen Freunden aus dem Amazonas zu angeln.“ Auch politisch sendet er eindeutige Signale. Am Dienstag verkündet Schneider, Deutschland unterstütze einen Fahrplan zur Abkehr von den fossilen Energieträgern Öl, Kohle und Gas, eines der ganz großen Themen bei dieser Konferenz.
Das ist einerseits schlüssig, denn Klima ist in der Koalition ein Fall für die SPD-Ressorts Umwelt und Entwicklung. Andererseits ist es ein Affront gegen Union und Kanzler, die gegenüber fossilen Energien deutlich aufgeschlossener sind. Einem „Spiegel“-Reporter verrät Schneider, sein Vorstoß sei nicht abgestimmt: „Das haben wir jetzt einfach mal gemacht.“