INTERVIEW

„Die Ukrainer träumen von Frieden“

von Redaktion

Nobelpreisträgerin Matviichuk über Putins imperiale Pläne und die Rolle Europas

Oleksandra Matviichuks „Center vor Civil Liberties“ erhielt 2022 den Friedensnobelpreis. © dpa

Oleksandra Matviichuk ist eine ukrainische Menschenrechtsanwältin und Aktivistin aus Kiew. Das von ihr geleitete „Center for Civil Liberties“ wurde 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Im Interview mit unserer Zeitung spricht sie über die Voraussetzungen für nachhaltigen Frieden und die Menschenrechtsverletzungen in den russisch besetzten Gebieten.

Frau Matviichuk, seit Tagen wird über den US-Friedensplan für die Ukraine diskutiert. Sehen Sie darin eine echte Chance für Frieden?

Der Plan wird noch ausgehandelt, und das ist erst einmal eine gute Nachricht für die Ukrainer. Sie träumen von Frieden. Aber man muss sich die Frage stellen: Kann dieser Friedensplan den Krieg nachhaltig beenden? Der ursprüngliche Vorschlag von US-Präsident Donald Trump konnte das nicht. Er beinhaltete keine Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die Wladimir Putin davon abhalten würden, das ganze Land zu erobern und weitere europäische Länder anzugreifen. Es braucht konkrete Sicherheitsgarantien, nicht nur leere Versprechen.

In der Ukraine gehen die russischen Angriffe unentwegt weiter – wie kann Deutschland helfen?

Putin hat diesen Angriffskrieg nicht nur begonnen, um ukrainische Gebiete zu besetzen. Es ist kein Krieg für Awdijiwka oder Bachmut. Es steckt ein anderes Motiv dahinter: Putin will die ganze Ukraine besetzen – und sieht sie als eine Brücke nach Europa. Seine Logik ist historisch, er will das russische Imperium gewaltsam auferstehen lassen. Deshalb müssen Deutschland und die anderen europäischen Länder ihren Ansatz ändern. Denn sie sind nur sicher, weil die Ukrainer immer noch kämpfen. Die Unterstützung der Ukraine ist eine Investition in unsere gemeinsame europäische Sicherheit.

Welche konkreten Maßnahmen braucht es?

Die EU sollte sich dafür einsetzen, ein Spezialtribunal zu schaffen, um Putin und die hohe militärische Führung des Landes auch in Russland strafrechtlich verfolgen zu können. Außerdem werden 300 Milliarden Euro an russischem Vermögen im Ausland gelagert – der Großteil davon in Europa. Dieses Geld könnte für die Verteidigung der Ukraine, die Unterstützung der zerstörten Regionen oder die Kompensation der Opfer des russischen Angriffskriegs genutzt werden.

Sollte die EU aktiver in der Ukraine eingreifen?

Russland schickt fast täglich hunderte Drohnen in die Ukraine. Was hält Deutschland und andere Länder davon ab, ein Stück Metall abzuschießen? Hier geht es nicht um das Leben eines russischen Piloten. Es ist nur ein Stück Metall, das 1000 Euro kostet. Russland hat die Drohnen bereits als Drohung in europäische Länder geschickt, nach Polen und Deutschland.

Ist die EU militärisch stark genug, um die Sicherheit der Ukraine langfristig zu garantieren?

Das ist eine wichtige Frage, weil Russland eine neue Art von Krieg führt, mit dem bislang nur die Ukraine Erfahrungen hat. Das bedeutet, europäische Armeen müssten von uns lernen. Es kommt auch darauf an, ob Europa künftig intensiv in Aufrüstung investiert.

Aus den russisch besetzten Gebieten dringt nur wenig nach außen. Welche Menschenrechtsverletzungen konnte Ihre Organisation dort feststellen?

Wir verzeichnen viel sexuelle Gewalt in den besetzten Gebieten. Das sind Verbrechen von sehr sensibler Natur, durch die Russland Gemeinschaften schwächen will. Wie funktioniert das? Die Überlebenden von sexueller Gewalt verspüren Scham. Ihre Familien, ihre Nachbarn fühlen sich hingegen schuldig, weil sie das Verbrechen nicht verhindern konnten. Andere haben wiederum Angst, selbst Opfer zu werden. Diese komplexe Mischung von Gefühlen – Scham, Schuld und Angst – reduziert die soziale Bindung und hilft Russland, die besetzten Gebiete zu kontrollieren.

Wie äußert sich diese Kontrolle noch?

Mindestens 20 000 ukrainische Kinder wurden aus den besetzten Territorien nach Russland verschleppt. Das ist nicht nur ein Kriegsverbrechen, es ist Teil einer genozidalen Politik. Putin sagt, es gibt keine ukrainische Nation, keine ukrainische Kultur. Er will die ukrainische Identität auslöschen. Deshalb sind Kinder das erste Ziel: Es ist einfacher, ihre Identität zu ändern. Wenn sie alt genug sind, müssen sie zum Militär. So wird eine neue Generation von Putin-Soldaten herangezogen. sbe

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