„Idee führt völlig in die Irre“

von Redaktion

Kein Job fürs Alter: Dachdecker werden in der Rentendebatte gerne als Beispiel herangezogen. © Peter Kneffel/dpa

Der Vorschlag von Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), das Rentenalter an die Beitragsjahre zu koppeln, sorgt für Diskussionen. Jochen Pimpertz vom Institut der Deutschen Wirtschaft liefert im Experten-Interview seine Einschätzung.

Herr Pimpertz, halten Sie den Vorstoß für sinnvoll?

Nein, denn er bricht mit den Grundgedanken der deutschen Rentensystematik.

Inwiefern?

Es scheint das Missverständnis vorzuliegen, dass bestimmte Erwerbsbiografien – zum Beispiel von Menschen ohne akademischen Abschluss – im Rentenrecht minderprivilegiert seien. Das genau berücksichtigt das System aber bereits. Ein Facharbeiter, der früh ins Berufsleben einsteigt und länger arbeitet, kann teils höhere Rentenansprüche erzielen als ein Akademiker, der ein Studium abschließt, dann möglicherweise ein höheres Einkommen erzielt, aber insgesamt eine kürzere Erwerbsbiografie hat.

Welche Probleme würde die Idee mit sich bringen?

Der Vorstoß von Frau Bas besagt, dass der Facharbeiter nach einer Mindestbeitragszeit ohne Abschlag in Rente gehen kann. Das haben wir heute schon: Nach 45 Beitragsjahren können Versicherte zwei Jahre vor Erreichen des regulären Renteneintrittsalters ohne Abschlag in den Ruhestand gehen. Der Vorschlag würde also nur dann eine Veränderung bringen, wenn diese Grenze an Beitragsjahren weiter abgesenkt wird. Das würde aber dazu führen, dass der Anreiz zum vorzeitigen Rentenbezug steigt und wir das Problem der fehlenden Fachkräfte am Arbeitsmarkt tendenziell verstärken.

Einige argumentieren, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen auch eine geringere Lebenserwartung haben. Wie sehen Sie das?

Man kann nicht so einfach vom Einkommen auf die Lebenserwartung schließen. Denn wie wird jemand bewertet, der als Facharbeiter startet, dann aber später für ein Studium pausiert? Oder umgekehrt jemand, der als Akademiker auf den Arbeitsmarkt tritt, aber nur halbtags arbeitet und deshalb ein niedriges Erwerbseinkommen aufweist? Hier einen Zusammenhang zur Lebenserwartung herzustellen, um zwischen Akademiker- und Facharbeiterlaufbahnen umzuverteilen – das führt völlig in die Irre. Außerdem ist die Rente nicht der Ort für Umverteilung. Das organisieren wir sehr viel treffsicherer über das Steuersystem.

Vor allem Akademiker müssten länger arbeiten. Ist das der richtige Ansatz?

Zu sagen, Akademiker müssen fünf Jahre länger arbeiten, bis 70 oder 71, um eine abschlagsfreie Rente zu beziehen, ist ein Fehlanreiz, nicht in akademische Bildung zu investieren. Das wäre eine nachträgliche Strafe dafür, in eine Hochschulbildung investiert zu haben, was ja für jeden Einzelnen auch mit Kosten beziehungsweise Einkommensverzicht verbunden ist.

Die Junge Gruppe will nach Berufsgruppen differenzieren. Ist das umsetzbar?

Hier müsste zuerst die Frage beantwortet werden, ob es sich dabei dann noch um eine Versicherung handeln soll oder nicht. Ansonsten fangen wir tatsächlich an, Versicherung für Einzelgruppen zu organisieren. Die Idee ist auch widersprüchlich, da die Politik sich gleichzeitig dafür ausspricht, dass sich Menschen in ihrer Qualifikation und ihrem beruflichen Tätigkeitsfeld immer weiter verändern und anpassen sollen. Mit dem Kriterium „Berufsgruppe“ würden wir deshalb nicht weiterkommen.

Was schlagen Sie vor?

Meine Gegenthese lautet: Unser Rentensystem ist weitaus besser als sein Ruf – wenn man die Finger davon lässt. Es betrachtet grundsätzlich nur die Erwerbsbiografie und schafft auch positive Anreize, erwerbsfähig zu sein. Denn jedes Beitragsjahr und jeder zusätzliche Euro, den man einzahlt, erhöht die eigene Rente.

Woher kommen dann unsere aktuellen Probleme?

Wir hatten eine Rentenreform in den 2000er-Jahren, für die wir auch international Anerkennung bekommen haben. Diese Reform hat die Politik von den 2010er-Jahren bis heute aber mit Haltelinien und gezielten Anreizen für den vorzeitigen Rentenbezug immer weiter verwässert und hinausgezögert. Bei den heute diskutierten Maßnahmen müsste man eigentlich von einer Reformverhinderung sprechen, weil der bereits gesetzlich verankerte und ökonomisch sinnvolle Reformpfad verlassen wird.

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