Die Illusion einer Wahl

von Redaktion

Ukrainische Soldaten bei der Präsidentenwahl 2019 in der Nähe einer Frontlinie in der Region Donezk. © Maloletka/dpa

München – Die jüngsten Meldungen klingen wenig ermutigend. Von Montag auf Dienstag griff Russland die Ukraine mit 110 Drohnen an, es war eine vergleichsweise ruhige Nacht. In den vergangenen Wochen hat es Tage mit dem fünffachen Beschuss gegeben. Der staatliche Gasversorger warnt die Bürger dann auch vor dem wohl härtesten Winter seit Beginn der Invasion, Moskaus Angriffe auf die Infrastruktur hätten in diesem Jahr früher begonnen und seien heftiger denn je.

Vor diesem Hintergrund klingt die Bereitschaft Wolodymyr Selenskyjs, in der Ukraine Wahlen abzuhalten, kühn. Am Dienstagabend hatte er damit für Erstaunen gesorgt. Der ukrainische Präsident nannte eine Spanne von 60 bis 90 Tagen, in der er sich einen Urnengang vorstellen könne – allerdings unter erheblichen und aufgrund der Kriegssituation nachvollziehbaren Bedingungen.

Konkret sind es zwei Einschränkungen, die er benennt: Die Partner der Ukraine, Europa und die USA, müssten die Sicherheit des Landes gewährleisten, also Schutz vor Aggressionen Russlands bieten. Wie das in der Realität des Krieges geschehen soll, ist völlig offen. Zudem rief Selenskyj die Abgeordneten seiner Fraktion „Diener des Volkes“ dazu auf, im Parlament Gesetzesänderungen vorzubereiten, um juristische Hürden auszuräumen. Aktuell sieht die Verfassung keine Wahlen vor, solange im Land das Kriegsrecht gilt. Eine Änderung der Verfassung ist in Kriegszeiten verboten.

Der Präsident reagiert mit seinem Vorstoß auf wiederkehrende Vorwürfe, er sei gar nicht mehr demokratisch legitimiert. Am Dienstag hatte wieder mal Donald Trump zügige Wahlen angemahnt. Selenskyjs reguläre Amtszeit wäre im Mai 2024 ausgelaufen, drei Monate später wäre auch die Legislaturperiode des Parlaments vorbei gewesen. Aufgrund des Krieges ist er jedoch weiterhin rechtmäßig im Amt.

Als Trump Selenskyj im Februar einen „Diktator“ nannte, war das zwar falsch, aber auch vertraut – der US-Präsident hatte unverhohlen die Sichtweise Russlands übernommen. Im Kreml sieht man sich auch diesmal mit Trump auf einer Wellenlänge. Dessen jüngste Aussagen über die geringen Erfolgsaussichten der Ukraine im Krieg, unvermeidbare Gebietsverluste, aber auch die Notwendigkeit von Wahlen stimmten „in vielerlei Hinsicht mit unserem Verständnis überein“, sagte Sprecher Dmitri Peskow.

Wie unwahrscheinlich das Wahlszenario dennoch weiterhin ist, lässt eine andere Wortmeldung aus Moskau erahnen. Maria Sacharowa, die Sprecherin des Außenministeriums, erklärte, Wahlen unter dem Schutz der USA, wie sie Selenskyj verlangt, seien ein Marionettentheater und nicht demokratisch. Das klingt nicht, als würde der Aggressor einer Waffenruhe zustimmen, ohne die weder Wahlkampf noch Urnengang selbst denkbar wären.

Nicht nur der frühere Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, moniert im „Deutschlandfunk“, man könne nicht wählen, während die Ukraine „jeden Tag und vor allem jede Nacht“ mit Raketen und Drohnen angegriffen werde. Auch Susan Stewart, Ukraine-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, sagt: „Ich sehe überhaupt nicht, wie man das in den besetzten Gebieten hinbekommen sollte.“ Es sei zudem schon schwierig genug, aktiven Soldaten oder Binnenflüchtlingen die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Stimmen abzugeben. Für die 5,8 Millionen Ukrainer im Ausland müsste man wohl eine digitale Lösung finden. „Aber da haben sehr viele die Befürchtung, dass es zu Manipulationen käme.“

Im eigenen Land sieht sich Selenskyj folglich eher selten Forderungen nach Wahlen ausgesetzt. „Die meisten sagen: Nein, wir brauchen und wollen keine Wahlen im Krieg“, sagt Stewart. Zu groß ist die Sorge vor russischer Desinformation, Manipulation und Destabilisierung, wie sie Moskau bereits in anderen Nachbarstaaten praktiziert hat. Die Expertin glaubt dann auch, dass Selenskyjs Vorstoß eine „taktische Komponente“ beinhaltet. Während er den eigenen Bürgern weiterhin vermittele, Gebietsabtretungen abzulehnen, signalisiere er den ausländischen Partnern: „Schaut, ich bin bereit, abgewählt zu werden.“

Womöglich kann er damit vor allem Trump etwas Wind aus den Segeln nehmen. Denn dass die USA ernsthafte Sicherheitsgarantien bieten können, ist nicht zu erwarten. Dazu bräuchte es eine sofortige Waffenruhe. Dass Russland sich darauf einlässt, glaubt wahrscheinlich nicht mal Trump.

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