Deutsche Soldaten könnten Teil einer multinationalen Schutztruppe in der Ukraine sein. © Detlef Heese/epd
München – Die Dinge drehen sich, mal wieder. Kaum vier Wochen ist es her, dass ein bedrückter Wolodymyr Selenskyj seinen Landsleuten erklärte, man habe nun die Wahl zwischen dem Verlust der Würde und dem Verlust eines zentralen Partners. Er meinte die USA, die gerade einen sehr Kreml-freundlichen Friedensplan vorgelegt hatten und heftig Druck auf Kiew ausübten. Am Montagabend steht derselbe Selenskyj in Berlin und sagt, es sehe gar nicht so schlecht aus.
Zwei harte Gipfeltage liegen da hinter ihm und immerhin: Die Ukraine, Europa und die irgendwie noch verbündeten USA haben sich (bis auf Weiteres) auf eine gemeinsame Linie geeinigt. Washington erklärt sich im Fall eines Waffenstillstands in der Ukraine zu Sicherheitsgarantien bereit, die an Artikel 5 des Nato-Vertrags erinnern. „Platin-Standard“, sagen US-Vertreter. Europa will dafür Soldaten zur Friedenssicherung schicken, also auch Deutschland. Oder?
Neu ist die Debatte nicht. Sie ploppte in diesem Jahr schon mehrfach auf – und lief immer gleich: Während Berlin die Diskussion – wohl auch aus Unbehagen – stets als verfrüht bezeichnete, preschten Frankreich und Großbritannien mit ihrer Idee einer „Reassurance Force“ für die Ukraine vor. Kernpunkte: Weniger als 30000 europäische Soldaten, nur ein kleiner Teil davon am Boden, alle weit hinter der Front stationiert.
Die jetzige Einigung erinnert sehr daran. Die Rede ist von einer „multinationalen Truppe“ unter europäischer Führung. „Willige Nationen“ sollen Truppen stellen. Auch die Aufgaben sind grob umrissen: Die Soldaten würden helfen, den Luft- und Seeraum zu sichern, und die ukrainischen Streitkräfte bei der „Regeneration“ unterstützen. Im Falle eines erneuten russischen Angriffs wären die Unterstützerstaaten verpflichtet, den Frieden wiederherzustellen – mit logistischer und nachrichtendienstlicher und diplomatischer Unterstützung, aber auch mit eigenen „bewaffneten Streitkräften“.
Wäre die Bundeswehr beteiligt? Letztlich liegt die Entscheidung darüber beim Bundestag, die Koalitions-Mehrheit würde reichen. Die Stimmen für eine Entsendung deutscher Soldaten mehren sich.
Fürsprecher gibt es vor allem in der Union. „Wenn es zu einem Waffenstillstand kommt, muss Europa bereit sein, ihn zu sichern“, sagte EVP-Chef Manfred Weber (CSU) unserer Zeitung. „Wir brauchen dafür europäische Einsatzstrukturen – mit Soldatinnen und Soldaten unter europäischer Flagge. Natürlich sind dann auch Deutsche dabei.“ Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Thomas Röwekampf (CDU), hält eine deutsche Beteiligung für „sehr wahrscheinlich“. Die Bundeswehr müsse Teil einer solchen Mission sein, sagte er der „Rheinischen Post“.
Überraschende Signale kommen aus der SPD. Verteidigungsexperte Ralf Stegner, der schon den Gedanken an deutsche Bodentruppen in der Vergangenheit für Teufelszeug hielt, sagte gestern dem RBB: „Wenn es dazu dient, den Waffenstillstand abzusichern, dann kann sich da niemand drücken.“ Die Frage sei aber „extrem schwierig“, man dürfe nicht den dritten vor dem ersten Schritt tun. Die größte Oppositionsfraktion AfD lehnt einen Bundeswehreinsatz indes grundsätzlich ab.
Ohnehin ist die Idee noch nicht ausbuchstabiert. Anfang des Jahres hatte die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik den Truppenbedarf grob beziffert. Demnach wären zur „glaubwürdigen militärischen Absicherung“ der 1200 Kilometer langen Frontlinie rund 150000 Soldaten nötig. Die Hauptlast trüge die Ukraine, westliche Verbände kämen erst deutlich dahinter zum Einsatz. Zu welchem Beitrag Deutschland überhaupt in der Lage wäre, ist unklar, zumal die Litauen-Brigade zur Sicherung der Nato-Ostflanke der Bundeswehr schon viel abverlangt. Eine Anfrage dazu ließ der Wehrbeauftragte der Bundesregierung unbeantwortet.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bleibt entsprechend zurückhaltend. Er finde die Idee einer multinationalen Truppe gut, sagte er am Montag, vieles sei aber noch offen. Gibt der Bundestag überhaupt ein Mandat? Und „unter wessen Kommando findet eigentlich was, wo und in welchem Rahmen statt“? Zuallererst sieht Pistorius den Kreml am Zug.
Der hatte die Idee europäischer Truppen in der Ukraine stets abgelehnt und die aktuellen Signale bestätigen das. Man habe den Text über die Sicherheitsgarantien noch nicht gesehen, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gestern, lehnte die Idee einer Waffenruhe vor Weihnachten aber ab. Russland wolle kein Durchatmen für die Ukraine, sondern seine Ziele erreichen.