Wie Schlafwandler sind Europas Regierungen 1914 in den Krieg gegangen. Die anfängliche Kriegsbegeisterung war schnell verflogen. In dem allgemeinen Töten wurde der Hass geschürt. „Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Britt“, so sang jeder Schusterjunge. Unter dem Kommando von Offizieren, die glaubten, ihre Pflicht tun zu müssen, lag man sich mordend gegenüber.
In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1914 aber begannen deutsche Soldaten in ihren Schützengräben Weihnachtslieder zu singen – vor allem „Stille Nacht“. Auf der gegenüberliegenden Seite antworteten englische Soldaten mit „Silent Night“ oder „O come All Ye Faithful“, dem deutschen „O kommet Ihr Gläubigen“. Das Singen wurde zum Signal, auch an den französischen Frontabschnitten. Die Waffen schwiegen, Soldaten verließen vorsichtig die Gräben, man traf sich im Niemandsland. Es wurden Zigaretten, Brot und kleine Geschenke getauscht, Gefallene wurden gemeinsam beerdigt. Diese Weihnachtslieder waren in dem grauenhaften Geschehen an der Front Zeichen des Friedens und der Hoffnung. Im gemeinsamen Singen zeigten die Soldaten, dass sie Menschen waren. Zu „Feinden“ waren sie nur abgestempelt von den Vorurteilen der Zeit.
Natürlich wurde dieser „Weihnachtsfrieden“ von den Militärführungen umgehend hintertrieben und verboten. Trotzdem steht das Ereignis bis heute als Zeugnis für die verbindende Kraft von Liedern, die gemeinsam gesungen werden, wie wir es auch heute ganz besonders zu Weihnachten tun. Diese Krieger des ersten Weltkrieges, der in England bis heute „The Great War“ heißt, standen noch auf dem Boden einer gemeinsamen Humanität, für die unser Weihnachtsfest steht. Zwischen den Waffen konnte die Menschenliebe aufblühen.
Zu Weihnachten 1945, nach einem weiteren Krieg, herrschte ein friedliches Einvernehmen zwischen uns und unseren englischen Siegern. In dem kleinen Städtchen Aurich, wo wir als Flüchtlinge lebten, war die Kirche übervoll zum Weihnachtsgottesdienst. Und hier standen unsere „Tommys“ wie wir die Engländer nannten, singend neben deutschen Soldaten, die eben aus der Gefangenschaft entlassen waren. Es herrschte wohl materielle Not der Zeit, aber es war Frieden und zum Fest erklangen nun dieselben altvertrauten Lieder wie 1914 über den Schützengräben. So erlebten wir das Glück einer Weihnachtsfeier, die uns alle zusammengebracht hat.
Ob wohl in dieser Weihnachtsnacht 2025 in den Schützengräben der Ukraine Soldaten beider Seiten miteinander Weihnachtslieder singen? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, wer diesen nun schon im vierten Jahr tobenden Vernichtungskrieg begonnen hat. Wir wissen auch: „Wer sich im Frieden wünschet den Krieg zurück – der ist geschieden vom Hoffnungsglück“ – er steht außerhalb der Humanität. Sie hat Weihnachten 1914 sogar die Schützengräben geöffnet. Das Geschehen in Bethlehem aber bleibt auch heute das Zeichen der Hoffnung – „Welt ging verloren – Christ ward geboren“.
Schreiben Sie an:
ippen@ovb.net