Der Sumpf um Selenskyj

von Redaktion

Präsident Wolodymyr Selenskyj steht wegen der Korruptionsvorwürfe in seinem Umfeld massiv unter Druck. Sein Präsidialamtschef Andrij Jermak (im Hintergrund) ist bereits zurückgetreten. © IMAGO

München/Kiew – Timur Mindich war erst wenige Stunden zuvor in einer schwarzen Mercedes-S-Klasse über die polnische Grenze geflohen, als Ermittler seine Wohnung im Kiewer Regierungsviertel stürmten. Was sie dort Anfang November fanden, steht sinnbildlich für den größten Korruptionsskandal der Ukraine seit Kriegsbeginn: eine goldene Kloschüssel. Nach ihr benannten die Ermittler den Fall „Operation Midas“ – eine Anspielung auf die griechische Sage um König Midas, der alles zu Gold machte, was er berührte.

Fünfzehn Monate lang hatte die Antikorruptionsbehörde NABU ermittelt. Mindich, immer noch auf der Flucht, gilt als Kopf eines Schmiergeldsystems, an dem etliche hochrangige Politiker und Minister beteiligt gewesen sein sollen. Sie nutzten Codenamen wie „Professor“, „Che Guevara“ oder „Sugarman“ und transportierten Bargeld in Sporttaschen – so voll, dass sie sich in abgehörten Telefonaten über Rückenschmerzen beklagten.

Mindich, Codename „Carson“, war ein langjähriger Geschäftspartner Präsident Wolodymyr Selenskyjs – beide stammen aus dem Showgeschäft und gründeten sogar gemeinsam eine Produktionsfirma. Ermittler bezeichnen Mindichs Wohnung als Waschküche des Systems. Hier floss schmutziges Geld aus dem staatlichen Energiekonzern Energoatom, der mehr als die Hälfte des ukrainischen Stroms liefert und die Infrastruktur vor russischen Angriffen schützen soll. Laut den Ermittlern mussten Auftragnehmer bei Energoatom-Projekten Schmiergelder von bis zu 15 Prozent zahlen.

Selenskyjs Administration beschuldigt nun den Aufsichtsrat von Energoatom, die Korruption nicht verhindert zu haben. Doch nach Recherchen der „New York Times“ entmachtete die Regierung das Gremium selbst, indem sie erst die Einbesetzung verzögerte und dann einen Sitz unbesetzt ließ – ein Patt zwischen Regierungsvertretern und ausländischen Experten machte den Aufsichtsrat handlungsunfähig. So sollen sich Mitglieder aus Selenskyjs innerstem Zirkel unbemerkt 100 Millionen Dollar abgezweigt haben, berichtet die Zeitung.

Ähnlich ging die Regierung beim staatlichen Stromnetzbetreiber Ukrenergo sowie bei der Beschaffungsagentur für Verteidigungsgüter vor – beide gaben in den vergangenen Jahren Milliarden Dollar an europäischen Krediten und Zuschüssen aus, ohne über einen funktionierenden Aufsichtsrat zu verfügen.

Der Skandal erschüttert die politische Landschaft. „Wie die Freunde des Präsidenten das Land im Krieg ausraubten“, lautete etwa eine Schlagzeile der „Ukrainska Pravda“. Justizminister Herman Haluschtschenko und Energieministerin Switlana Hryntschuk wurden zum Rücktritt gezwungen. Der ehemalige Vizepremier Oleksij Tschernyschow wurde festgenommen. Und auch Andrij Jermak, Leiter des Präsidentenbüros und zweitwichtigster Mann des Landes, trat von seinem Posten zurück, nachdem es eine Razzia in seinem Haus gegeben hatte. Er galt als Selenskyjs engster und wichtigster Vertrauter – und hatte noch wenige Tage vor seinem Rücktritt mit US-Außenminister Marco Rubio an einem Friedensplan gearbeitet.

Selenskyj wurde 2019 mit dem Versprechen gewählt, die Korruption zu beenden. Doch tatsächlich scheint die Regierung NABU schrittweise entmachtet zu haben. Im Juli unterzeichnete der Präsident ein Gesetz, das dem Generalstaatsanwalt, einem engen Vertrauten, weitreichende Kontrolle über NABU eingeräumt hätte – erst nach massiven Protesten nahm er es zurück.

Besonders heikel: Eine Spur führt offenbar nach Moskau. Laut NABU liefen Schmiergelder über ein Kiewer Hinterbüro mit Verbindungen zur Familie des kremlnahen russischen Senators Andrij Derkatsch. Ein Teil des Geldes soll nach Russland geflossen sein.

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